Das Landgericht Detmold verurteilt einen Ex-Mediziner aus Fellbach zu einer Haftstrafe – die hätte allerdings noch viel höher ausfallen können. Das Motiv bleibt ein Rätsel.
Auch Gerichte kennen die berühmten „goldenen Brücken“. Wer jemanden umbringen will, es sich aber mittendrin dann doch anders überlegt, kann eine solche beschreiten. Um dann nicht wegen eines Mordversuchs verurteilt zu werden, sondern wegen „weniger“. Wie der 72-Jährige aus Fellbach, der seine hochbetagte Mutter eine Treppe hinuntergestoßen hatte.
Bizarre Kriminalfälle brauchen vor Gericht mitunter eine lange Zeit, bis ein Urteil gesprochen werden kann. Bei diesem ist es anders: Eineinhalb Verhandlungstage reichten dem Detmolder Schwurgericht, um den 72 Jahre alten Ex-Mediziner aus Fellbach schuldig zu sprechen und gegen ihn eine Haftstrafe von vier Jahren und neun Monaten zu verhängen.
Haftstrafe hätte höher ausfallen können
Es hätte deutlich mehr werden können, wenn die Kammer den angeklagten versuchten Mord aus Heimtücke erkannt hätte. Jedoch stand am Ende der Urteilsberatung die Feststellung: Der 72-Jährige hätte im vergangenen August im Wohnhaus seiner Mutter in Lemgo (Kreis Lippe, Nordrhein-Westfalen) Zeit und Gelegenheit gehabt, „nachzusetzen“, als die 99-Jährige samt Rollstuhl am Ende einer Kellertreppe hilflos und aus einer Beinwunde blutend am Boden lag – aber er flüchtete stattdessen. Dass er zuvor die Hochbetagte in Tötungsabsicht die Treppe hinuntergestoßen hatte, wertete das Gericht „nur“ als gefährliche Körperverletzung, weil der Angeklagte zuvor freiwillig seinen Mordversuch aufgegeben hatte und somit dafür nicht zu verurteilen war.
„Es scheint eine sinnlose Tat zu sein“, fasste der Vorsitzende Richter Karsten Niemeyer den Umstand zusammen, dass die Aufklärung eines Motivs des Angeklagten nicht möglich war. Auch ein psychiatrischer Sachverständiger war der Gemütslage des 72-Jährigen nicht nähergekommen: Der Versuch eines Explorationsgesprächs habe fünf Minuten gedauert, aus der Gerichtsakte ergebe sich kein Hinweis auf eine psychische Störung des Angeklagten. „Um einem Impuls nichts entgegenzusetzen, brauchen wir in der Mehrzahl von Gewalttaten innerhalb einer Familie keine psychischen Störungen“, stellte der Gutachter fest – der Angeklagte hatte in seinem Geständnis behauptet, er habe seine Mutter zu einer Aussprache besucht und beim Öffnen der Tür in einem Impuls gehandelt, den er nicht hätte kontrollieren können.
Für Staatsanwalt Alexander Görlitz war die Tat eindeutig „nichts anderes als ein geplanter Mordanschlag.“ Die geh- und sehbehinderte Mutter sei arglos gewesen, weil sich der Mann an der Tür als Mitarbeiter des Pflegedienstes ausgegeben habe, „ein höchst vulnerables Opfer“. Der Angeklagte habe den Tatort verlassen, nachdem er sicher gewesen sei, dass seine Mutter sterben werde: „Überall war Blut, an der Treppe, auf dem Boden, an den Wänden“, zudem sei anzunehmen, dass Menschen in diesem Alter bei einem solchen Sturz schwerste Verletzungen erleiden würden. Er forderte acht Jahre Haft.
Die beiden Verteidiger, Henning Schuhmann und Jens Rabe aus Waiblingen, hingegen argumentierten mit dem Rücktritt vom Mordversuch und beantragten eine zweijährige Bewährungsstrafe wegen gefährlicher Körperverletzung. Der 72-Jährige hatte die Ermittlungen durch seine Selbstanzeige – zwei Tage später an seinem Wohnort und „von schlechtem Gewissen geplagt“ – auf sich gezogen, er sei am Tatort vor sich selbst erschrocken und zutreffend davon ausgegangen, dass durch den Hausnotruf sofort Hilfe alarmiert werde. Sein allgemeiner Gemütszustand mache den Angeklagten zu einem „psychologisch anspruchsvollen Mandanten“, er sei „e bissle komisch“, sagte Schuhmann. Aber auch ihnen sei es nicht gelungen, herauszufinden, was den 72-Jährigen dazu gebracht habe, seine Mutter töten zu wollen.
Mutter ist hoch traumatisiert
Letzteres war die Frage, die Rechtsanwältin Silke Streit als Nebenklagevertreterin gerne beantwortet gesehen hätte – vergebens. Für die 99-Jährige sei es „eine gewisse Erleichterung“, dass ihr Sohn in seinem Geständnis wenigstens eingeräumt habe, dass er sie umbringen wollte und dafür eine „Art von Entschuldigung“ vorgebracht habe. Das aber reiche nicht aus. „Ihre Mutter ist hoch traumatisiert, sie erschrickt zu Tode, wenn jemand an ihrer Haustür klingelt.“ Sie appellierte an den Angeklagten: „Erklären Sie ihr, warum es dazu gekommen ist. Nutzen Sie die Zeit, die Ihnen beiden bleibt, sich persönlich zu entschuldigen.“ Der 72-Jährige nahm die Plädoyers und das Urteil teils tränenüberströmt wahr. In seinem letzten Wort sagte er. „Es tut mir schrecklich leid“, der Rest ging in einem Weinkrampf unter.