Am kommenden Prozesstag, 27. Februar, könnte bereits ein Urteil gesprochen werden. Foto: dpa/David-Wolfgang Ebener

Ein 71-Jähriger aus Fellbach zeigt sich selbst bei der Polizei an – doch war es wirklich ein Mordversuch? Vor Gericht gibt er eine erstaunliche Version der Tat zu Protokoll.

Oft genug beschäftigen schwierige Familienverhältnisse die Gerichte. Zum Glück nicht allzu oft, weil einer den anderen umbringen wollte. Ein 71-Jähriger aus Fellbach steht derzeit in Detmold (Nordrhein-Westfalen) vor dem Landgericht: Er soll versucht haben, seine hochbetagte Mutter zu ermorden.

 

Der Fall, der sich im August in Lemgo (Kreis Lippe) zugetragen haben soll, ist bizarr. Vielleicht auch, weil das 99 Jahre alte Opfer als Hauptzeugin das Problem hat, nicht besonders gut zu sehen – und den Täter nicht erkannt hat. Zudem weichen ihre Beobachtungen zur Tat etwas ab von dem, was der Angeklagte selbst dazu vorbringen lässt.

Sohn gibt sich als Mitarbeiter des Pflegedienstes aus

Aus Sicht der Staatsanwaltschaft stellt sich den Vorfall so dar: Der 71-Jährige habe an jenem Abend an der Haustür geklingelt, sich als Mitarbeiter des Pflegedienstes ausgegeben, der „wegen Corona“ käme und die 99-Jährige, kaum dass sie die Tür geöffnet hatte, samt ihrem Rollstuhl den gegenüberliegenden Treppenabgang hinuntergestoßen. Als die Seniorin auf einem Zwischenpodest zum Liegen gekommen sei, soll der Sohn sie noch die weitere halbe Treppe hinuntergeworfen haben, um sie zu töten – und dann sofort die Örtlichkeit verlassen haben.

Die Seniorin konnte noch selbst den Notruf auslösen. Foto: www.imago-images.de/IMAGO/Sebastian Gabsch

Die Anklage lautet auf versuchten Mord. Die 99-Jährige konnte mit ihrem Notfallarmband Hilfe holen, sie erlitt überwiegend leichtere Verletzungen, hätte aber – wie ein Rechtsmediziner feststellte – durchaus in Lebensgefahr geraten können, weil sie blutverdünnende Medikamente nimmt. Vor Ort konnte die Polizei keinerlei Hinweise auf einen Tatverdächtigen sammeln. Wie ein Beamter im Zeugenstand sagte, seien im Haus unmittelbar nach der Tat keine anderen Personen festgestellt worden, auch habe nichts auf ein wie auch immer geartetes Eigentumsdelikt hingewiesen.

Dass er nun vor Gericht steht, hat der 71-Jährige selbst in die Wege geleitet: Er zeigte sich zwei Tage später an seinem Wohnort Fellbach auf der Polizeiwache selbst an – frühmorgens gegen 5 Uhr, wegen unterlassener Hilfeleistung. Die Verteidiger des 71-Jährigen, Henning Schuhmann und Jens Rabe, gaben für ihren Mandanten zum Prozessauftakt vor dem Detmolder Schwurgericht eine Erklärung ab, die ein grundsätzliches Geständnis der Tat beinhaltete, so wie sie angeklagt ist. Jedoch will der 71-Jährige sich nicht als Pflegedienst-Mitarbeiter ausgegeben haben, zur Begrüßung habe er gesagt: „Wir haben uns seit Corona nicht mehr gesprochen.“

Zwist wegen der zweiten Ehe

Er habe den von der Mutter erwähnten hellen Overall – in der Art der „Spurenanzüge“ der Polizei – nur getragen, weil er zuvor unter seinem Auto nach der Ursache eines Geräuschs nachschauen und sich nicht habe schmutzig machen wollen. Und eine Tötungsabsicht bestreitet der Angeklagte: Er habe seine Mutter zu einer Aussprache aufgesucht, da es wegen seiner zweiten Ehe, die er vor wenigen Jahren geschlossen habe, solchen Zwist gegeben habe, dass der Kontakt zwischen Mutter und Sohn zum Erliegen gekommen sei. Dieser Konflikt habe ihn lange belastet. Als die 99-Jährige geöffnet habe, habe er einen Impuls nicht beherrschen können und seine Mutter die Treppe hinuntergestoßen. Jedoch sei für den Angeklagten offensichtlich gewesen, „dass seine Mutter nicht schwerwiegend verletzt sein konnte“, so Verteidiger Jens Rabe. Seine Suche nach einem Telefon, um Hilfe zu holen, sei gescheitert, und als er aus dem Keller gehört habe, wie der Hausnotruf betätigt worden sei, habe der Angeklagte den Tatort verlassen – sicher, dass seiner Mutter „sofort die notwendige medizinische Hilfe“ geleistet werde. Was er heute sehr bereue.

Was war das Motiv?

Auf der Suche nach der Motivlage kommt die Schwurgerichtskammer am ersten Prozesstag nicht sehr weit. Der Angeklagte, betont Anwalt Rabe, tue sich „damit sehr schwer“, er könne zum Konflikt mit der Mutter nur „sehr wenig fokussiert“ sprechen. Offenkundig aber löste die zweite Ehe des verrenteten Mediziners erhebliche familiäre Verwerfungen aus: Auch der Kontakt zu seinen drei erwachsenen Kindern aus erster Ehe sei „wegen der Nicht-Akzeptanz“ der neuen Ehefrau „massiv zerrüttet“. Nach Worten der Verteidigung hatte der Angeklagte bereits vor 20 Jahren wegen seelischer und psychosomatischer Leiden seine Arztpraxis aufgegeben und bis zum Renteneintritt in verschiedenen Jobs gearbeitet.

Am kommenden Prozesstag, 27. Februar, könnte bereits ein Urteil gesprochen werden. Zur Frage der Schuldfähigkeit will das Schwurgericht zuvor einen psychiatrischen Sachverständigen hören.