Sieger Maicklerschule Foto: Patricia Sigerist

Bei der Eröffnung setzt Oberbürgermeister Christoph Palm die virtuelle Brille auf – Stadtrat Paul Rothwein hat derweil mit den Verkehrsbehörden zu kämpfen.

Fellbach - Trotz kühler Witterung haben am Samstag beim großen Festumzug zum Auftakt des Fellbacher Herbsts mehrere tausend Besucher die Straßen der Innenstadt gesäumt. Und der fromme Wunsch von Oberbürgermeister Christoph Palm, dass herbstliche Temperaturen im Oktober schon in Ordnung seien, so lange der Himmel seine Schleusen doch bitteschön geschlossen halte, ging ebenfalls in Erfüllung. Trockenen Fußes erreichten 2200 Festzugteilnehmer die Eröffnungsfeier im Atrium vor der Schwabenlandhalle – der Regen fiel erst in den Abendstunden.

Fast nicht erreicht hätte den Festzug hingegen die Rot(h)wein-AG. Die fleißigen Helfer um Stadtrat Paul Rothwein sind seit zwei Jahrzehnten als Voraustrupp im Einsatz, um die an der Strecke stehenden Schaulustigen mit einem kräftigen Schluck auf den Zug mit seinen an die 60 Gruppen – darunter allein 16 Musikkapellen – einzustimmen. Beim Weingeist-Kreisel wurde die mobile Trinkhalle am Samstag abrupt aufgehalten: Eine junge Polizistin erklärte dem verdutzten Rothwein, dass keinesfalls durch den Kreisel könne, weil der Durchgangsverkehr noch bevorrechtigt sei.

Stadtrat Rothwein, sonst durchaus als durchsetzungsfähiger Zeitgenosse bekannt, war baff. „Wir haben da eine Viertelstunde verloren“, sagt er – und legt Wert auf die Feststellung, den Festzug keinesfalls verzögert zu haben. Dass sich die Polizei für die Unkenntnis der Kollegin ausdrücklich entschuldigte, hat Rothwein wieder besänftigt. Fellbachs Revierleiter Klaus Auer, als FW/FD-Stadtrat unter den Ehrengästen, musste nicht mal klärend eingreifen.

OB Christoph Palm hatte vor der Kelter derweil den traditionellen Erntedank-Reim gesprochen: „Nun bringt den Wagen in die Stadt, der Wein und Frucht geladen hat“. Nachdem die Stadtkapelle den Choral „Nun danket alle Gott“ angestimmt hatte, setzte sich der Zug in Bewegung. In vorderster Linie dabei auch die künftige Oberbürgermeisterin Gabriele Zull. Im September mit großem Vorsprung zur Rathauschefin gekürt, konnte sich die neue Frau an der Stadtspitze schon mal ansehen, was im kommenden Jahr von ihr erwartet wird.

Auf den Plakaten der Festwagen war die bisherige Göppinger Sozialbürgermeisterin schon vor der Amtseinsetzung omnipräsent: Kaum eine Gruppe ließ es sich nehmen, den Wechsel im Rathaus ideenreich zu karikieren.

Schön war beispielsweise das vom CVJM entwickelte Fellbach-Navi, das Sprüche wie „Am nächsten U-Turn ... der ZU 11 folgen“ zu bieten hatte. Die Kombination „Mit Jesus ... übers Ziel hinausgeschossen“ barg allerdings eine eher unfreiwillige Pointe. Prämiert wurde von der eigens eingesetzten Jury bei den Fußgruppen die Maicklerschule mit ihrer samt Kappelbergtunnel selbst gebastelten Umsetzung des Verkehrsthemas. Bei den Festwägen hatte erneut der Obst- und Gartenbauverein die Nase vorn – die wissen halt, wie’s geht.

Wir wollen den Gutachtern wirklich nicht zu nahe treten. Aber eigentlich hätte auch die Wichernschule mit ihrer Boxenstopp-Choreographie ein anerkennendes Wort verdient. Und die Stabstelle für Senioren, Integration und Inklusion. Und natürlich die beiden Jungs von der Landjugend, Christian Warth und Tobias Gauß, die eine 106 Kilo schwere Riesentraube auf den Schultern hatten. Das nötigte selbst Gerhard Bürkert ein Kompliment ab. Der Festzugsmoderator versprach den Trägern prompt ein „Extra-Viertele“, hätte aber durchaus gern auch selbst einen Schluck gehabt. „Die prosten mir dauernd zu und ich steh im Trockenen. Das ist seelische Grausamkeit“, witzelte er am Mikrofon.

Der Festzug erreichte, nach etlichen Stockungen, mit reichlich Verspätung das Atrium vor der Schwabenlandhalle. „Wahrscheinlich hat der OB zum Abschied jetzt wirklich jedem an der Strecke die Hand geschüttelt“, mutmaßten wartende Festgäste. Bevor er und Weingärtner-Vorstandschef Thomas Seibold von Anja Off den Becher mit dem Eröffnungstrunk erhielt, nutzte Palm die große Kulisse zu einem ebenso launigen wie nachdenklichen Auftritt. Die teilweise gereimte Herbstansprache des scheidenden Stadtoberhaupts drehte sich um die Frage, wie die Digitalisierung des Lebens die Gesellschaft und das Denken und Handeln der Menschen verändert. Dass ein handelsübliches Smartphone inzwischen über deutlich mehr Rechenleistung verfüge als alle Computer, die weiland die Apollo-Kapsel auf den Mond gebracht hatten, sei nicht nur ein Zeichen des Fortschritts. Es führe auch zu Unsicherheit, wenn der Mensch die Dinge nicht mehr überblicken könne. Diese Unsicherheit dürfe nicht zu einer Lähmung führen. „Uns ist der Zukunftsglaube abhanden gekommen“ forderte der 50-Jährige sein Publikum – neben Ehrengästen aus den Partnerstädten auch Vertreter aus Politik, Wirtschaft und der in Fellbach ansässigen Behörden – zu mutigen Entscheidungen auf. „Wir müssen raus aus der Apathie, vieles am Fortschritt ist erschreckend, aber vieles ist auch grandios“, sagte er.

Mitgebracht zum Auftritt hatte Palm eine Cyber-Brille, die er aber schnell wieder absetzte, um von der Attraktivität und Schönheit der realen Welt zu schwärmen. Mit dem Satz „Es ist eine furchtbare Vorstellung, sein Viertele nur virtuell trinken zu müssen“ sprach Palm, bevor die Jugend der Stadt ausgeschickt wurde, um den hundert ältesten Bürger einen Präsentkorb zu überbringen. Der Traubentanz der Landjugend, die musikalische Begleitung durch Stadtkapelle und den vom Gustav-Stresemann-Gymnasium unterstützten Philharmonischen Kinderchor, die Trinksprüche und Böllerschüsse waren nach dem Ausflug in die digitale Zukunft dann die traditionellen Rituale für den Fellbacher Herbst – und wieder so handfest und lebensnah, wie man das seit dem ersten Herbst im Jahre 1948 kennt.