Inniger Moment bei der Versorgung: Annamaria Di Cerbo kümmert sich allein um die komplette Pflege ihres Sohnes. Foto: privat

Francesco ist zwölf Jahre alt und geht zur Schule. Doch wenn er sich erkältet, muss Mutter Annamaria Di Cerbo Angst haben, dass er stirbt.

Schlafen ist das oberste Gebot. Annamaria Di Cerbo weiß ganz genau, dass sonst gar nichts mehr geht und sie die Pflege ihres Sohnes Francesco nur schafft, wenn sie ihre eigenen Energiereserven regelmäßig wieder auffüllt. „Ich muss nach mir schauen und für mich sorgen. Wenn es zu viel wird, ziehe ich mich zurück und grenze mich ab“, sagt die 54-Jährige aus Fellbach. Und sie sagt das, wenn es sein muss, auch direkt zu Francesco.

 

Zum Beispiel dann, wenn ihr Sohn mal wieder einen Infekt von der Schule nach Hause bringt. Dann muss sie die Nacht zum Tag machen, um ihn zu überwachen und um mit ihm zu inhalieren. „Irgendwann geht es nicht mehr. Ich habe in solchen Momenten schon zu Francesco gesagt: Mama kann nicht mehr und muss jetzt schlafen. Dann habe ich mich wirklich hingelegt – und es ging gut.“ Am nächsten Morgen sei es ihrem Sohn damals sogar ein wenig besser gegangen.

„Der Gendefekt, das war Schicksal“

Für Mutter Annamaria ein Zeichen dafür, dass sich immer wieder Türen öffnen, wenn man lernt, zu vertrauen und loszulassen. „Nichts ist zufällig. Dieser Gendefekt, das war Schicksal.“ Ihr Mann und sie hätten sich testen lassen, ohne Befund. Und Francescos älterer Bruder Fynn sei auch kerngesund. „Francesco hat es getroffen, aber es ist in Ordnung, wir haben trotzdem ein gutes Leben, anders, aber gut“, sagt Annamaria Di Cerbo. Sie wolle es nicht schönreden, es sei hart, aber sie leide nicht, sondern habe sich arrangiert.

Und dann erzählt die 54-jährige Frau mit italienischen Wurzeln ruhig und ganz mit sich im Reinen davon, wie es so ist. Sie erzählt von Francesco, ihrem Jüngsten, dem Jungen mit den hellen blonden Haaren, der gerade erst Geburtstag gefeiert hat und gern den Geschichten von Biene Maja auf seiner Toniebox lauscht.

Diagnose Kleefstra-Syndrom – „Die Lunge ist sein größtes Problem“

Francesco ist mit dem Kleefstra-Syndrom (siehe Infokasten) zur Welt gekommen – einer äußerst seltenen genetischen Störung, zu deren Hauptmerkmalen unter anderem eine geistige Behinderung gehört. Die Schwere der Beeinträchtigungen reicht von gering bis gravierend. „Francesco hat das volle Programm abbekommen, Pflegegrad 5. Neben epileptischen Anfällen ist die Lunge sein größtes Problem“, sagt seine Mutter.

Als Francesco gerade mal ein halbes Jahr alt war, hatte er ein akutes Lungenversagen. Es ging um Leben und Tod. „Ich hatte wahnsinnige Angst, dass er stirbt.“ Doch Francesco kämpfte und schaffte es. Er will leben und kommt vom Sauerstoff weg. Es geht den Umständen entsprechend aufwärts, doch wenn er einen Infekt kriegt, muss seine Mutter Angst haben, dass er stirbt, dass die angegriffene Lunge, das geschwächte Immunsystem es nicht packen.

„Er hat sich entwickelt, aber eben sehr minimalistisch“

Seit einem dieser Infekte kann er nicht mehr alleine essen. „Dabei sind wir doch Italiener, die essen gern. Das ist Lebensqualität“, sagt Mutter Annamaria. Jetzt hat er eine Magensonde. Auch sprechen kann Francesco nicht und vermutlich ist er blind. Seine Mutter glaubt aber, dass er hell und dunkel sowie Geräusche wahrnehmen kann. „Er hat sich entwickelt, aber eben sehr minimalistisch. Wenn ich reinkomme, spürt er das und lacht manchmal, auch in seinem Therapiestuhl.“

Früher konnte er selbst essen, jetzt hat der Zwölfjährige eine Magensonde. Foto: privat

Darin sitzt er auch, wenn seine Mama mit ihm inhalieren muss. Annamaria Di Cerbo ist ständig um ihn herum. Morgens hat sie eine halbe Stunde Zeit für sich, dann richtet sie sich und weckt Francesco. Sie wickelt ihn, kuschelt mit ihm, lässt ihn Geschichten hören, überwacht seine Vitalwerte am Monitor und lagert ihn oder setzt ihn in seinen Stuhl. Bei alledem hadert sie nicht. „Ich könnte ihn weggeben, aber ich will ihn pflegen. Ich bin kein Opfer.“ Die Worte nimmt man der zierlichen, 1,50 Meter großen Frau ab.

Am Anfang wusste niemand, was los war

Bei der Diagnose war sie damals nach eigener Aussage „völlig out of order“ und hat nichts mehr verstanden. „Ich bin da hineingewachsen. Ich habe kein Thema mit der Situation. Wenn, dann habe ich ein Problem damit, dass ich so klein bin und es damit körperlich schwierig ist. Aber ich denke in Lösungen, nicht in Problemen.“

Wenn er erkältet ist, was oft der Fall ist, muss seine Mama mit Francesco inhalieren. Foto: privat

An die Anfangszeit erinnert sich die 54-Jährige trotzdem mit Schrecken zurück. „Keiner wusste, was los war. Keiner hat Klartext mit uns gesprochen. Die eigentlichen Ausmaße haben wir erst viel später begriffen“, sagt Annamaria Di Cerbo und verrät, dass Francesco am Hochzeitstag von ihr und ihrem geschiedenen Mann auf die Welt kam. „Das war schon mystisch, dass es das gleiche Datum war.“

Es erfordert wohl eine spezielle Einstellung, um dieses Leben so zu meistern – trotz fehlender Unterstützung, durchwachten Nächten und kaum Möglichkeiten, die elterliche Eigentumswohnung zu verlassen. Doch Annamaria Di Cerbo hat ihren Frieden damit gemacht. Ihr Geheimnis? Nicht an den Wäschebergen und am Isoliertsein verzweifeln, sondern sich Raum nehmen für Kreatives und mit den Kräften haushalten. „Ich habe ein gutes Netzwerk, meine Eltern wohnen nebenan und kochen.“ Wenn die Situation mit der Pflege besser wird, will sie wieder Sport machen. „Ich muss gesund bleiben. Das geht aber erst, wenn kein Pflegenotstand mehr herrscht und ich mehr Unterstützung bekomme.“

Während sie das alles erzählt, liegt Francesco in seinem extra breiten Pflegebett. Die gelernte technische Zeichnerin kann neben ihm sitzen oder liegen. Wenn sie ihm ins eine Ohr flüstert, dass sie ihn lieb hat, dreht er das andere hin. Diese kleinen willkürlichen Rituale geben ihr Kraft. „Er ist ganz gechillt, er kennt es ja nicht anders. Es ist eine andere Ebene, aber es ist schön.“ Es sei wohl ihr Wesen, dass sie die Situation annehmen könne, aber sie arbeite auch permanent an sich. „Ändern kann ich nichts, deshalb schaue ich nach vorne“, sagt Annamaria Di Cerbo, die sich als spirituell bezeichnet. „Ich glaube an Wunder.“

Leben mit dem Kleefstra-Syndrom

Gendefekt
Das Kleefstra-Syndrom ist ein seltener Gendefekt, dessen Häufigkeit nicht im Detail bekannt ist. Schätzungen gehen aber von einer Frequenz von 1 zu 200 000 Fällen bei Menschen mit intellektueller Entwicklungsverzögerung aus. Klinische Merkmale sind allgemeine Entwicklungsverzögerung, Intelligenzminderung, Autismusspektrum-Störung, hypotoner Muskeltonus, verzögerte expressive Sprachentwicklung. Zudem zeigt sich die genetische Störung durch eine allgemeine Infektanfälligkeit, Herzfehler, renale beziehungsweise urogenitale Fehlbildungen.