Die Wichernschule fördert Schüle, die Handicaps beim Lernen haben. Foto: Patricia Sigerist

Weil die Sonderschulpflicht abgeschafft wurde, werden nach den Sommerferien an drei Fellbacher Grundschulen auch Kinder mit Handicap unterrichtet. Die Wichernschule stellt dafür die Lehrer.

Fellbach - Geradezu revolutionär sind die neuen Entwicklungen an der Wichernschule zu nennen. Sonderschulrektor David Coronel wählt ausdrücklich dieses Wort vom grundlegenden gesellschaftlichen Umbruch, um zu illustrieren, wie sich die Förderschule ebenso wie andere Sonderschularten zu verändern haben. Sie wird im nächsten Schuljahr einerseits als einzige Einrichtung in Fellbach in der Grundstufe zur gebundenen Ganztagesschule. Vielleicht noch mehr aber wirbeln andererseits die Folgen der Inklusion den gewohnten Schulbetrieb durcheinander.

Sonderschulpflicht ist abgeschafft

Erst kürzlich hat der Landtag von Baden-Württemberg das Schulgesetz geändert. Als zentrales Element hat er die Pflicht zum Besuch einer Sonderschule abgeschafft und ein Elternwahlrecht eingeführt. Eltern von Kindern mit einem Anspruch auf ein sonderpädagogisches Bildungsangebot, seien es Schüler mit einem Handicap beim Lernen, Gehörgeschädigte, Sehbehinderte, seien es geistig Behinderte, können ab dem kommenden Schuljahr wählen, ob ihr Kind an einer allgemeinen Schule oder einer Sonderschule lernen soll.

Pädagogen werden an zwei Schulen eingesetzt

In Fellbach wirkt sich dieses Gesetz aus: Bereits in drei Schulen gibt es ab September Gruppen von Schülern mit besonderem Förderungsbedarf, in der Maickler-, der Schiller- und der Zeppelinschule. „Die insgesamt 14 Kinder gelten als Schüler der Grundschule, werden aber von unseren Lehrern zusätzlich unterstützt“, sagt Wichernschul-Rektor Coronel. „Außerdem beraten wir Lehrer und Eltern.“ Gleichzeitig muss das Lehrerkollegium auch die jungen Menschen mit Handicaps unterrichten, deren Eltern sich für die Wichernschule entschieden haben. Für die Pädagogen bedeutet dies, dass sie an zwei Einrichtungen eingesetzt sind. „Da gibt es noch große Fragezeichen. Wie klappt das mit der Organisation? Wie werden die Stundenpläne aufeinander abgestimmt? Wie wirkt sich die Belastung der Lehrer aus? Das wird spannend“, sagt Coronel.

Die Schülerzahl ist nicht eingebrochen

Trotz der Inklusion hat sich die Schülerzahl an der Wichernschule überraschend nicht verringert: „Alle haben geglaubt, durch die Inklusion brechen bei uns die Schülerzahlen ein. Doch wir haben für das nächste Schuljahr schon wieder 75 Schüler.“ In der jüngeren Vergangenheit haben jährlich zwischen 70 und 80 Mädchen und Jungen die Wichernschule besucht. Coronel glaubt, dass der Bedarf an sonderpädagogischer Förderung künftig noch weiter zunimmt, oder, besser gesagt, jetzt zutage tritt: „Fellbach und Kernen, die das Einzugsgebiet unserer Schule bilden, hatten eine der geringsten Förderschulraten im ganzen Kreis. Aber jetzt darf das Kind mit Förderbedarf in der Grundschule bleiben. Nun sagen Eltern plötzlich zu, dass wir diesen Bedarf prüfen“, sagt der Rektor. Gemessen am Durchschnitt im Kreis müssten Fellbach und Kernen 100 bis 120 Schüler mit Förderbedarf haben. Coronel glaubt, dass sich die Zahlen dem annähern werden.

Praktisch gesehen bedeutet die Inklusion, dass einige Grundschüler nach einem individuellen Bildungsplan lernen. Das bedeutet aber nicht, dass sie während des gesamten Unterrichts einen persönlichen Lehrer hätten. „Wir, das soll heißen alle Praktiker, sind froh, dass wir weggekommen sind von der Einzelinklusion. Wir können es nur handhaben, wenn die Kinder in Gruppen von idealerweise vier bis fünf Kindern unterrichtet werden.“ Dies übernimmt stundenweise der Sonderschullehrer, während für die Klasse der Grundschulunterricht weitergeht. Auch in der Gruppenlösung werden die Inklusionskinder während eines großen Teils des Unterrichts von ihrer Grundschullehrerin unterrichtet und gefördert. „Das Zwei-Pädagogen-Prinzip ist ein Muss“, sagt der Sonderschulrektor. „So können wir die Kinder optimal fördern.“

Wichernschule ist keine Resteschule

Wenn die Eltern ihre Wahl ausüben, raten die Fachleute in der Wichernschule je nach Ausgangsbedingungen manchmal von der Inklusion ab. „Wir sind nicht die Resteschule, sondern die Schule für Kinder, die besondere Bedürfnisse haben“, sagt David Coronel. Während mancherorts die Angst grassiert, dass die Förderschulen bald leer bleiben und alle ihre Lehrer draußen in der Inklusion sind, glaubt David Coronel anderes: „Etwa 60 Vollzeit-Schüler werden wir jedes Jahr noch haben, das schätze ich aus dem Bauchgefühl heraus. Es wird immer Kinder geben, die ein Angebot brauchen, wie wir es haben. Auch die Gemeinschaftsschule macht dies nicht überflüssig.“

Stellen können nicht besetzt werden

Ein Wermutstropfen bleibt: Für die Inklusion und trotz des Übergangs zur Ganztagsschule hat die bisher schon gut ausgestattete Wichernschule keinen zusätzlichen Lehrer bekommen. Genau das aber hatte das Kultusministerium versprochen und verkündet: „Für den Ausbau inklusiver Bildungsangebote stehen im kommenden Schuljahr weitere 200 Deputate zur Verfügung“, heißt es in einer Mitteilung zum neuen Schulgesetz. Allerdings fehlen Sonderschullehrer: „Seit vielen Jahren plant man die Inklusion, und dennoch haben es Politik und Hochschulen nicht geschafft, dass genügend Lehrer ausgebildet werden. Stellen können nicht besetzt werden“, sagt David Coronel und sieht darin ein Versäumnis. „Man hätte vorsorgen können.“