Peter Mielert vor dem Gebäude an der Daimlerstraße 100 in Bad Cannstatt, das abgerissen werden soll. Foto: LICHTGUT/Max Kovalenko

In Stuttgart fehlt Wohnraum – und doch stehen viele Häuser und Wohnungen leer und sind dem Verfall preisgegeben. Auch städtische. Wie kann das sei, und welche Möglichkeiten hat die Stadt, gegen Leerstand vorzugehen?

Peter Mielert geht mit offenen Augen durch die Stadt. Und manch eine Beobachtung treibt ihn dann monatelang, ja jahrelang um. Bad Cannstatts grünes Urgestein, das sich 2022 nach 42 Jahren aus dem Bezirksbeirat verabschiedet hat, ist durch seine Tätigkeit dort natürlich sensibilisiert. Aber auch die Erfahrungen, die seine Frau derzeit macht, machen ihn aufmerksamer. Diese gibt Sprachkurse – und trifft dabei immer wieder auf Menschen, die aus ihrer Gemeinschaftsunterkunft hinaus möchten und händeringend nach einer Wohnung suchen.

 

Mielert hingegen trifft auf leer stehende Gebäude. Die teils dem Verfall preisgegeben sind, statt Menschen ein Zuhause zu sein. Mielert kann das nicht gut ertragen. Wenn er etwa an dem Gebäude an der Daimlerstraße 100 im Sanierungsgebiet Veielbrunnen in Bad Cannstatt vorbeikommt, schüttel er nur noch mit dem Kopf; Leerstand kann für ihn kein Zustand sein.

In Stuttgart fehlt Wohnraum. Viel Wohnraum. Doch wie viele Wohnungen genau? Die Frage hat die Stadtverwaltung 2021 zu beantworten versucht: Je nachdem, mit welcher Bevölkerungsentwicklung man rechne, seien bis zum Jahr 2030 zwischen 13 400 und 22 400 zusätzliche Wohnungen nötig. Die Zahl dürfte sich inzwischen erhöht haben – und da zählt jede zusätzliche Wohnung.

Mielert hat das alte Haus, das Mitte des 19. Jahrhunderts entstand und das oft als stadtbildprägend beschrieben wird, schon zu den Zeiten beschäftigt, als er im Bezirksbeirat Bad Cannstatt saß, denn schon damals war Wohnraum knapp. Das Haus – sowie zwei angrenzende Häuser am Veielbrunnenweg 23 und 25 – steht seit 2016 leer.

Die Stadt kaufte es damals und entmietete es, da dort ein Mobilitätszentrum entstehen sollte. Doch seitdem ist nichts passiert. Obwohl sich der Bezirksbeirat immer wieder für eine Sanierung des Gebäudes ausgesprochen hatte, hat die Verwaltung den Abriss des Gebäudes beschlossen. Es bestehe „Einsturzgefahr“, es sei „Gefahr in Verzug“. Der Abriss war für Sommer 2022 angesetzt.

Doch das Haus steht noch. Und es ist durch unzureichende Sicherungsmaßnahmen und unzureichenden Schutz gegen Witterungseinflüsse weiter dem Verfall preisgegeben. Nicht nur Mielert ist irritiert von dem Hin und Her. Auch die Stadt gibt zunächst einmal eine falsche Antwort auf die Frage, was nun mit dem Haus wird, berichtigt sich aber auf Nachfrage unserer Zeitung.

Richtig sei, dass „die Stadt, auch auf Anregung der Politik, versucht habe, einen Weg zu finden, das Gebäude zu erhalten. Aufgrund des Gebäudezustands ist ein Abbruch des Gebäudes jedoch unumgänglich.“ Aktuell werde eine Neubebauung Wohnen durch die Stuttgarter Wohnungs- und Städtebaugesellschaft (SWSG) an dieser Stelle geprüft.

Auf die Anfrage unserer Zeitung an die Pressestelle der Stadt vom 7. Dezember 2023 Stuttgart, warum das Haus nicht wie geplant im Sommer 2022 abgerissen wurde, warum man so mit diesem durchaus stadtbildprägenden Haus umgegangen ist, warum die Stadt eine Immobilie verkommen lässt und ob sie eine Gebäude über eine so lange Zeitspanne überhaupt leer stehen lassen darf und was man sich unter einer Neubebauung Wohnen durch die SWSG vorstellen darf, gab es trotz mehrfachen Nachfragens unserer Zeitung keine Antwort von Seiten der Stadt.

Stadt: „Die Zahlen zum Wohnungsleerstand in Stuttgart sind seit Jahren gering“

Auf generelle Fragen zum Thema Leerstand gab die Stadt hingegen bereitwillig Auskunft: „Die Zahlen zum Wohnungsleerstand in Stuttgart sind seit Jahren gering.“ Aktuellen Schätzungen zufolge sei der marktaktive Leerstand in Stuttgart – also Geschosswohnungen, die unmittelbar vermietbar oder mittelfristig aktivierbar sind – im Zeitraum 2010 bis 2019 von 1,7 auf 0,5 Prozent zurückgegangen. „Nach einem leichten Anstieg in den Corona-Jahren 2020 und 2021 um 0,1 Prozentpunkte, dürfte der Leerstand 2022 wieder auf 0,5 Prozent gefallen sein“, heißt es von Seiten der Stadt. Dies entspricht rund 1200 leer stehenden Wohnungen.

Die aktuelle Schätzung der Leerstandsquote aller Wohnungen in Mehrfamilienhäusern – inklusive Ruinen und nicht kurzfristig aktivierbarer Leerstand – liegt für 2022 bei etwa 1,2 Prozent des Wohnungsbestands in Mehrfamilienhäusern.

Dies entspricht rund 3000 Wohnungen. Das ist der für Mielert der relevante Leerstand, gegen den er schon immer versuchte, politisch anzugehen. Was den städtischen Leerstand angehe, weist die SWSG in ihrem Jahresbericht 2022 einen bewirtschaftungsbedingten Leerstand von 0,2 Prozent des Wohnungsbestands aus. Das Leerstandniveau ist insbesondere auf Modernisierungsmaßnahmen zurückzuführen. Aber auch hier gibt es offensichtlich sogenannte Ruinen . . .

Doch ab wann gilt eine leer stehende Immobilie als Leerstand? Letztlich sei das eine Frage der Definition. „Wir können dies nur Anhand der gesetzlichen Regelungen beantworten. Gemäß § 3 Abs. 1 Nr. 4 der Zweckentfremdungsverbotssatzung stellen nur Leerstände von mehr als sechs Monaten Dauer eine Zweckentfremdung dar. Daher definiert die Frist den Leerstand, der sanktioniert werden kann“, so die Antwort der Pressestelle der Stadt Stuttgart. Diesen Leerständen will die Stadt durch Kontrolleure auf die Spur kommen – doch derer haben sie aufgrund von Personalmangel über weite Zeitspannen hinweg zu wenige. Ansonsten reagiert sie auch auf Hinweise.

Nach dieser Zeit habe die Stadt durch der städtischen Satzung zum Zweckentfremdungsverbot von 2016 grundsätzlich die Möglichkeit, eine Zweckentfremdung durch ein Bußgeld von bis zu 100 000 Euro zu ahnden und die Wiederzuführung zu Wohnzwecken anzuordnen. Dabei bleibt die Verpflichtung zur künftigen Wiederaufnahme einer Wohnnutzung auch bestehen, wenn der zurückliegende Leerstand durch ein Bußgeld geahndet wurde. Hier drängt sich einem geradezu die Frage auf, ob dass dann auch auf die Daimlerstraße 100 zutrifft.

Es gibt noch viele weitere Leerstände in Stuttgart, die Mielert anprangert

Mielert sind indes noch weitere Leerstände in der Stadt aufgefallen. Etwa einige städtische Gebäuden an der Pragstraße aus der Gründerzeit, die zum Teil schon abgerissen wurden. „Auch dort hätte man sanieren und Wohnraum schaffen können“, sagt Mielert. Die Stadt widerspricht dem: „Für alle drei Gebäude wurden Zweckentfremdungsgenehmigungen erteilt. Sie wurden im Bauleitplanverfahren Rosensteintunnel/Leuzetunnel aus Immissionsschutzgründen als ‚zur Wohnnutzung nicht mehr geeignet’ eingestuft.“ Für das verbleibende Gebäude werde geprüft, ob diese gegebenenfalls erhalten und einer anderweitigen Nutzung zugeführt werden kann. Sollte dies nicht der Fall sein, müsse auch dieses abgebrochen werden.

Auch ein Gebäude an der Annabergstraße, das sich in Privatbesitz befindet, ist Mielert aufgefallen . „Es steht seit rund zwei Jahren leer und offen, Tauben ziehen ein, es verfällt“, sagt Mielert. Davon will die Stadt nichts gewusst haben: „Für das Gebäude wurden vor zwei Jahren zwei Baugenehmigungen für den Einbau von zwei zusätzlichen Wohneinheiten und eine Abgeschlossenheitsbescheinigung erteilt. Als Leerstandsobjekt war uns das Gebäude dem Bauordnungsamt bislang nicht bekannt. Da bislang nicht mit dem Bau begonnen wurde, wird nun der Eigentümer wegen des Leerstands seitens der Stadt angefragt.“ Um das städtische Eigentum Daimlerstraße 100 bleiben indes viele Fragen offen.

Info

Zweckentfremdungsverbot
Das Gesetz über das Verbot der Zweckentfremdung von Wohnraum vom 19. Dezember 2013, geändert durch Gesetz vom 4. Februar 2021, dient der Bekämpfung von örtlichem Wohnraummangel. Es gibt den Städten und Gemeinden die Möglichkeit, durch eine Satzung ein Verbot der Zweckentfremdung von Wohnraum festzulegen, soweit der Wohnraummangel nicht in absehbarer Zeit durch andere Maßnahmen beseitigt werden kann. Damit es aber gar nicht erst zu Leerstand oder Zweckentfremdung kommt, informiert und berät die dafür zuständige Stelle im Baurechtsamt über die Thematik.

Ahndungen und Genehmigungen
Von 2016 bis Mitte 2023 wurden 1699 Verfahren eingeleitet. Genehmigt wurde die Zweckentfremdung von 163 000 Quadratmetern Wohnraum.

Wohnraumverlust ausgleichen
Die Stadt kann Zweckentfremdungen aber auch genehmigen, etwa durch Abbruch oder durch Nutzungsänderung einer Wohnung in ein Büro, sofern der Wohnraumverlust durch gleichwertigen neuen Wohnraum mindestens ausgeglichen wird.

Wohnungsmarkt braucht Leerstand
Ein funktionierender Wohnungsmarkt benötigt einen gewissen Leerstand, etwa um kurzfristige Steigerungen der Nachfrage abzufangen, Spielräume für Modernisierungen zu sichern oder um Umzüge problemlos zu ermöglichen. In der Regel wird eine Leerstandsreserve von rund zwei bis drei Prozent für das Funktionieren des Marktes als notwendig erachtet. Ein niedrigerer Leerstand deutet auf einen angespannten Wohnungsmarkt hin und beeinträchtigt die Umzugsmobilität der Haushalte. „Stuttgart ist folglich weit entfernt von einem ausgeglichenen Wohnungsmarkt“, heißt es von Seiten der Stadt.