Straton Musoni (links) und Ignace Murwanashyaka vor der Urteilsverkündung Foto: dpa

Mehr als vier Jahre lang mühte sich das Stuttgarter Oberlandesgericht, Kriegsverbrechen in der 6000 Kilometer entfernten Demokratischen Republik Kongo aufzuklären. Nun ist der Prozess endlich mit Schuldsprüchen zu Ende gegangen. Menschenrechtler loben das Verfahren, die Richter sind unzufrieden.

Stuttgart - Etwas verloren steht Straton Musoni im Saal 6 des Stuttgarter Oberlandesgerichts. Soeben hat der Vorsitzende Richter den Prozess gegen den früheren Vizepräsidenten der ruandischen Rebellenmiliz FDLR („Demokratische Kräfte zur Befreiung Ruandas“) und den Präsidenten Ignace Murwanashyaka mit dem Verlesen der Urteilsbegründung beendet – nach 320 Verhandlungstagen.

Viereinhalb Jahre lang mussten sich die beiden Ruander vor Gericht wegen Rädelsführerschaft einer terroriristischen Vereinigung, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verantworten. Jetzt scheint Musoni fast verdutzt zu sein, dass ihm keiner der Justizbediensteten wie gewohnt seine Handschellen anlegt, um ihn wieder zurück in seine Haftzelle in die Justizvollzugsanstalt Karlsruhe zu fahren.

Der 54-Jährige verlässt den Gerichtssaal als freier Mann. Zwar wird er wegen Rädelsführerschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung zu einer Freiheitsstrafe von acht Jahren verurteilt, weil er mit fünf Jahren und zehn Monaten Untersuchungshaft aber bereits mehr als zwei Drittel der Strafe verbüßt hat, wird der Haftbefehl gegen in aufgehoben.

Sein Komplize dagegen wird wegen Rädelsführerschaft und Beihilfe zu vier Kriegsverbrechen zu 13 Jahren Haft verurteilt. In beiden Fällen bleiben die Richter bei ihrer Strafzumessung deutlich unter der Forderung der Bundesanwaltschaft. Mit Hilfe von Satellitentelefonen, E-Mails und SMS haben die beiden Männer , die seit mehr als 25 Jahren in Deutschland leben, die Rebellengruppe in Zentralafrika von Mannheim und Neuffen (Kreis Esslingen) aus geführt.

Nach Ansicht des Gerichts ist der 52-jährige Murwanashyaka als Präsident der Hutu-Miliz FDLR für Verbrechen im Osten des Kongo 2008 und 2009 verantwortlich. Die Bundesanwaltschaft lastete ihm auch Verbrechen gegen die Menschlichkeit bei fünf Massakern im Jahr 2009 mit fast 200 Toten an und hatte lebenslange Haft mit besonderer Schwere der Schuld gefordert. Für seinen Stellvertreter forderte die Anklage zwölf Jahre Haft. Die Verteidigung hatte Freispruch für die beiden ruandischen Staatsangehörigen verlangt – und legt unmittelbar nach der Urteilsbegründung Revision ein.

Die Angeklagten haben nach Ansicht des Gerichts „Schlüsselpositionen“ in der FDLR innegehabt

„Wir zweifeln schon an, dass die Haupttaten überhaupt so stattgefunden haben“, sagt Murwanashyakas Anwältin Ricarda Lang. Bundesanwalt Christian Ritscher will das Urteil erst einmal „in Ruhe prüfen“, ehe er über weitere Schritte entscheidet.

Beide Angeklagten haben nach Ansicht des Gerichts „Schlüsselpositionen“ in der FDLR innegehabt. Sie hätten von Übergriffen und Kriegsverbrechen sehr wohl gewusst und diese billigend in Kauf genommen, und das über Jahre hinweg. Mehr noch: Sie hätten die Taten in der Öffentlichkeit verheimlicht, bagatellisiert, zum Teil sogar bewusst geleugnet.

Letztlich lasse sich aber nicht mit ausreichender Sicherheit feststellen, dass Murwanashyaka auch die Macht über den militärischen Flügel der FDLR hatte, sagt der Vorsitzende Richter Jürgen Hettich. Es gebe Zeugenaussagen, wonach der Militärchef Befehle vom Politiker Murwanashyaka nicht akzeptiert oder diese zumindest nicht umgesetzt habe.

Vorsitzender Richter kritisiert Mammutverfahren

Beihilfe zu den Kriegsverbrechen sei ihm jedoch anzulasten, da er die Taten unterstützt habe, indem er etwa Telefone organisiert und die öffentliche Propaganda übernommen habe. Für Verbrechen gegen die Menschlichkeit sei die Beweislage dagegen nicht eindeutig genug. Der Senat sei vielmehr zu der Überzeugung gelangt, dass die Zivilbevölkerung nicht Hauptziel der FDLR-Angriffe war.

Ganze vier Worte genügen Jürgen Hettich und seinen vier Richterkollegen um den längsten Strafprozess in der Geschichte der baden-württembergischen Justiz zusammenzufassen: „So geht es nicht!“

In schonungsloser Offenheit spricht Hettich die Probleme an, mit denen der 5. Strafsenat im bundesweit ersten Prozess nach dem 2002 in der Bundesrepublik eingeführten Völkerstrafgesetzbuch zu kämpfen hatte. Dieses ermöglicht die Verfolgung von Völkermord, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, auch wenn sie im Ausland begangen wurden. Über viereinhalb Jahre hinweg hörten die Richter 42 Zeugen, entscheiden über mehr als 700 Verfahrens- und 300 Beweisanträge, verlasen 631 Urkunden, nahmen 231 Dokumente, Filme und Karten in Augenschein, ließen 44 Befangenheitsanträge über sich ergehen und bleiben am Ende nach 320 Verhandlungstagen doch höchst unzufrieden.

Beweismittel aus 6000 Kilometer Entfernung

Ein solches Mammutverfahren, dessen Tatorte so weit entfernt von Deutschland liegen, lasse sich mit der deutschen Strafprozessordnung nicht behandeln, schiebt Hettich seiner Urteilsbegründung voraus. „Die Beweismittelbeschaffung aus 6000 Kilometern Entfernung war eine Herkulesaufgabe. Im Grunde mussten wir zwei Jahre eines Bürgerkriegs im Ostkongo aufklären.“

Bundesanwalt Ritscher teilt die Ansicht des Gerichts nicht: „Ich bin der Auffassung, dass die deutsche Justiz solche Verfahren bewältigen kann – sie hat es ja heute getan.“

Dagegen befand die Verteidigerin des Hauptangeklagten Murwanashyaka, Rechtsanwältin Lang: „Der Rechtsstaat hat die Bewährungsprobe nicht bestanden.“ Das Verfahren habe gezeigt, dass eine Verurteilung nur unter Missachtung sämtlicher rechtsstaatlicher Grundsätze erfolgen habe können. So beruhe das Urteil einseitig auf Behauptungen und Bewertungen bestimmter Interessengruppen, deren Quellen nicht überprüfbar seien: Zeugen vom Hören-Sagen, deren Erkenntnisgrundlagen unbekannt geblieben seien.

Prozess drohte mehrfach zu platzen

Richter Hettich räumt ein, dass das Verfahren mehrmals davor stand, zu platzen. Dass das Pilotverfahren für das Völkerstrafgesetzbuch dann doch zu Ende gebracht werden konnte, sei der Tatsache zu verdanken, dass zwei Drittel des Verfahrensstoffes ausgeschieden wurden – von den ursprünglich 16 Anklagepunkten blieben am Ende noch fünf übrig –, und dem Umstand, dass bei den Prozessbeteiligten „gewisse Ermüdungserscheinungen“ eingetreten seien. „Sonst hätten wir wohl locker noch vier weitere Jahre verhandeln können“, sagt Hettich.

Doch auch mit den Prozessbeteiligten geht Hettich hart ins Gericht: „Wer den Prozess nur in den letzten Tagen ab den Plädoyers verfolgt hat, konnte den Eindruck gewinnen, es handle sich um einen ganz normalen Prozess mit normalem Umgangston – dem war nicht so“, betont der Vorsitzende Richter. „Das was sich hier teilweise abgespielt hat, war unsäglich.“

Menschenrechtsorganisationen begrüßen das Urteil. Mit dem FDLR-Verfahren in Stuttgart habe Deutschland „einen Beitrag zur weltweiten Strafverfolgung von Menschheitsverbrechen, Kriegsverbrechen und Völkermord geleistet“, erklärt Generalsekretär Wolfgang Kaleck vom Europäischen Zentrum für Verfassungs- und Menschenrechte (ECCHR) in Berlin.

Der ruandische Justizminister Johnston Busingye bezeichnete das Urteil als „guten Schritt“ auf dem Weg der juristischen Wiederaufarbeitung. „Die Opfer werden zufrieden sein, denn die Gerechtigkeit hat gesiegt.“