Die Ära Nagelsmann ist zu Ende: Thomas Tuchel übernimmt. Foto: AFP/Franck Fife

Mit der Trennung von Trainer Julian Nagelsmann und der Verpflichtung von Thomas Tuchel als Nachfolger unmittelbar vor der entscheidenden Saisonphase versuchen die Münchner ein waghalsiges Manöver.

In einer der ersten Live-Schalten stand die Reporterlegende Uli Köhler nur mäßig ausgeleuchtet im Bild und hatte Mühe, die frisch überlieferte Trennung des FC Bayern von Julian Nagelsmann (35) einzuordnen. Viele spektakuläre Trainerrauswürfe habe er schon erlebt beim deutschen Rekordmeister, über einen am späten Abend mitten in einer Länderspielpause habe er in seiner langen Laufbahn noch nie berichtet, erzählte der 71-Jährige. Es sei ein Erdbeben beim FC Bayern, befand Köhler an diesem denkwürdigen Donnerstag und verwies darauf, dass der als Nachfolger auserkorene Thomas Tuchel (49) übrigens nicht zaubern könne. Seine Schalte ins Sky-Studio schloss Köhler mit den Worten: „Auf jeden Fall ist der Zeitpunkt absoluter Wahnsinn und die Aktion auch sehr bedenklich.“

Erst am frühen Freitagabend machten die Bayern den Trainerwechsel dann offiziell, Tuchel erhält einen Vertrag bis 2025 und wird schon am Montag erstmals das Training leiten. „Nach der WM haben wir immer weniger erfolgreich und attraktiv gespielt, die starken Leistungsschwankungen haben unsere Ziele in dieser Saison infrage gestellt, aber auch über diese Saison hinaus. Deshalb haben wir jetzt reagiert“, sagte Vorstandschef Oliver Kahn.

Tuchel kann das Team kaum vorbereiten

Auf den ersten Blick verblüffend kam nicht nur die Trennung, nachdem Nagelsmann im Sommer 2021 für rund 20 Millionen Euro Ablöse von RB Leipzig verpflichtet worden war und als erster Bayern-Trainer einen Fünfjahresvertrag erhalten hatte. Überraschend ist auch, dass die Beurlaubung unmittelbar vor der entscheidenden Saisonphase vollzogen wurde. Am 1. April kommt Borussia Dortmund als Tabellenführer mit einem Punkt Vorsprung zum Zweiten nach München. Nur drei Tage später folgt für den FC Bayern das Viertelfinale im DFB-Pokal gegen den SC Freiburg. Eine Woche danach steht das Hinspiel im Viertelfinale der Champions League bei Manchester City an. Vor dem FC Bayern liegen also Wochen, die über den Erfolg der Saison entscheiden können. Vorbereiten darauf kann Tuchel das Team kaum. Erst am Mittwoch werden die meisten Nationalspieler zurückkommen nach München, drei Tage später soll die Tabellenführung gegen den BVB zurückerobert werden.

Beim FC Bayern sind sie sich darüber im Klaren, dass Nagelsmanns Vertrag bis 2026 nun als teure strategische Fehlentscheidung gilt und sie sich mit ihrem Trainerwechsel an einem waghalsigen Manöver versuchen. Es ist, als würde bei einem Autorennen in voller Fahrt kurz vor dem kniffligsten Streckenabschnitt der Pilot gewechselt; oder als ginge man beim Poker unvermittelt „All in“. Dass die Bayern die damit verbundenen Risiken in Kauf nehmen, erzählt viel über das gewachsene Misstrauen gegenüber Nagelsmann. Immer wieder hatten die Münchner zwar betont, dass man mit dem jungen Fußballlehrer „langfristig“ plane. So war es noch am Montag in einem „Kicker“-Interview mit Vereinspräsident Herbert Hainer zu lesen: „Die Trainerdiskussion zwischendurch kam von außen, die haben nicht wir vom Zaun gebrochen.“

Scharfe Mentalitätskritik von Sportvorstand Hasan Salihamidzic

Nagelsmanns zunehmend blank liegende Nerven und der Eklat um seine Schiedsrichterschelte („weichgespültes Pack“) zuletzt nach der 2:3-Niederlage in Mönchengladbach erzählten etwas anderes. Das gilt auch dafür, dass ein sogenannter Maulwurf Nagelsmanns Taktik mit der neu eingeführten Dreierkette abfotografiert und der „Sport Bild“ zugespielt hatte. Die scharfe Mentalitätskritik des Sportvorstands Hasan Salihamidzic nach der 1:2-Niederlage am Sonntag in Leverkusen zielte nur vordergründig auf die Spieler. Tatsächlich wurde allen voran Nagelsmann angelastet, dass die Leistungen der Mannschaft ständig schwankten und sie in den zehn Ligaspielen 2023 zehn Punkte weniger geholt hat als Dortmund.

Schon nach den drei 1:1 zu Jahresbeginn gegen RB Leipzig, den 1. FC Köln und Eintracht Frankfurt war aus dem engen Umfeld des FC Bayern zu hören, dass ein Aus im anschließenden Pokalspiel in Mainz Nagelsmanns Entlassung zur Folge haben werde, und zwar „sicher“. Die Bayern gewannen 4:0, und mit dem souveränen Weiterkommen im Achtelfinale der Champions League gegen Paris Saint-Germain (1:0/2:0) schien Nagelsmanns Position vorerst gefestigt. Doch im Verein blieb gegenüber dem Trainer jene Skepsis bestehen, die sich schon in seinem ersten Amtsjahr eingeschlichen hatte. Damals hatte es das Pokal-Debakel in Gladbach in der zweiten Runde (0:5) gesetzt und das Aus im Viertelfinale der Champions League gegen den FC Villarreal. Was blieb, war der Meistertitel.

Bald danach wurde Nagelsmanns Beziehung zu Lena Wurzenberger bekannt, die bis dahin als FC-Bayern-Reporterin für die „Bild“ gearbeitet hatte. Auch in der Kabine wurde der Trainer zunehmend beäugt. Manche Spieler sollen genervt gewesen sein vom sendungsbewussten Nagelsmann. Auch der Vorwurf des Showcoachings stand im Raum. Zudem lösten manche Aufstellungen Verwunderung aus.

Von Tuchel als Nachfolger erhoffen sie sich beim FC Bayern eine straffe und schlüssige Linie. Die Entscheidung für den früheren Mainzer und Dortmunder Trainer fiel auch, weil er in Paris (Finale 2020) und beim FC Chelsea (Titelgewinn 2021) nachgewiesen hat, ein Team erfolgreich durch die Champions League coachen zu können. Zudem heißt es, die Bayern wollten sich den umworbenen Tuchel nicht zum zweiten Mal nach 2018 durch die Lappen gehen lassen. Damals hatte Uli Hoeneß als noch amtierender Präsident zunächst sein Veto eingelegt. Zu tun hatte das auch damit, dass Tuchel seit seiner Dortmunder Zeit in dem Ruf steht, ein anstrengender Charakter zu sein. Auch deshalb finden manche, dass sie beim FC Bayern gerade ganz schön ins Risiko gehen.