Der Achtjährige ist älter und naturverbundener als seine Brüder. Er ist Autist – und seine Waiblinger Familie zunehmend ratlos. Aus Anlass des Tages des Autismus sprechen die Eltern über die für die ganze Familie herausfordernde Situation.
Er liebt sein Forscherzimmer mit viel Holz und Pflanzen, sammelt leidenschaftlich Insekten und kleine Tiere. Auch mit Büchern kann er trotz Lese-Rechtschreibschwäche etwas anfangen, selbst wenn lesen wohl nie zu seinen Lieblingshobbys gehören wird. Zahlen faszinieren ihn da schon mehr. Vieles bringt er sich selbst bei. Lio hat Ahnung von Dingen, bei denen keiner so genau weiß, wo und wie er es sich angeeignet hat. An guten Tagen scheint alles in Ordnung bei dem Achtjährigen mit dem wachen Blick und dem hübschen Gesicht. An schlechten Tagen sieht die Sache anders aus. Und der Grat ist schmal.
Scheinbar kleinste Kleinigkeiten können einen katastrophalen Ausbruch bei dem Autisten auslösen und die Familie aus Waiblingen über ihre Grenzen hinaus bringen. Wenn er etwa nach dem falschen Schuh greift, die Hose plötzlich zwickt, er mal wieder duschen soll oder ein für den Tag geschmiedeter Plan doch noch mal umgeworfen werden muss. Sachen wie diese können dazu führen, dass Lio sich hineinsteigert, tobt, schreit, durch das Haus oder – viel schlimmer – auf die Straße rennt und nicht mehr unter Kontrolle zu bekommen ist. „Er ist dann wie in einem Tunnel, aus dem er nicht mehr rauskommt“, sagt seine Mama Nina.
Die Familie wird vertröstet und auf Wartezeiten eingeschworen
Nina, die wie ihr Mann ihren Nachnamen nicht veröffentlicht haben möchte, rennt Lio dann hinterher, hält ihn fest, wenn er zittert oder kuschelt mit ihm, wenn er langsam wieder zu sich kommt und Nähe zulässt. Situationen, die Kraft kosten und verzweifelt machen. Deshalb wollen Nina und Jonathan ihre Geschichte erzählen. Damit es für andere in der gleichen Situation unter Umständen etwas leichter wird. „Vielleicht hilft Öffentlichkeit, denn es muss etwas passieren, damit man bei solchen Problemen schneller Hilfe erhält und nicht komplett auf sich allein gestellt und verzweifelt ist wie wir, nur weil das System falsch läuft.“
Die 30-Jährige redet nicht davon, dass ihr Sohn gelegentlich zu Wutanfällen neigt. Sie spricht offen darüber, dass Lio Autist ist und dringend eine vernünftige Diagnostik und eine geeignete Therapie brauche. Doch überall würden sie vertröstet und auf lange Wartezeiten eingeschworen. Bis das Wort Autismus im Raum stand, hat es lange gedauert. Doch auch wenn seither vieles endlich Sinn ergibt, steht bei der fünfköpfigen Familie alles Kopf. Nina und Jonathan hört man an, wie sehr sie alles mitnimmt. Beide wünschen sich eigentlich nur eines: „Wir wollen unser normales Leben zurück.“
Besonders stark wird dieser Wunsch, wenn die Lage mal wieder völlig eskaliert, wie beispielsweise bei einem Ausflug in den Tierpark. Lio ist komisch an diesem Tag, unruhig. „Er hat ständig gesagt, dass ihm was fehlt. Ich habe ihm gut zugeredet und gesagt, dass wir rausfinden werden, was es ist.“ Doch das klappt nicht. Stattdessen tickt Lio komplett aus. Es sind die Zäune, die die Gehege umgeben, die ihn stören. „Die Zäune müssen weg, ich will die Tiere spüren“, schreit er wie von Sinnen. Ein Traktor, der immer wieder umherfährt, stresst den Jungen zusätzlich. „Damals habe ich Jonathan angerufen und gesagt, dass ich nun keine Zweifel mehr habe, dass Lio Autist ist“, erinnert sich Nina.
Ein Zahnarztbesuch endet in einer Katastrophe
Auch den völlig missglückten Zahnarztbesuch wird sie wohl nie vergessen. Bei Lio sollte ein Schneidezahn gerichtet werden, unter Beruhigungsmitteln, damit er die Prozedur in einer Art Dämmerschlaf erlebt. „Doch alles ging schief, es wirkte nicht richtig, der Anästhesist leitete letztlich eine Vollnarkose ein.“ Als der Achtjährige wieder aufwachte, war er nicht er selbst. Er schlug um sich, kratzte, biss. Im Auto trat er gegen die Scheibe. Weder seine Mutter noch die Oma bekamen die Lage in den Griff. In ihrer Not suchte Nina gar Hilfe bei der Polizei. Es musste ein Krankenwagen angefordert werden. Sie und ihr Mann versuchen ruhig zu bleiben in solchen Momenten. Werden sie laut, wird alles schlimmer. Sie haben dazugelernt in der letzten Zeit.
Ein Blick zurück zeigt: Erst mit dem Schulstart fing alles an. Davor war Lio ein unauffälliges Kind. In der Schule hat er quasi von Anfang an Probleme – so massive, dass er nur noch wenige Stunden hingeht, dann an eine spezielle Einrichtung, die Bodenwaldschule Winnenden, wechselt. Während die Lehrer anfangs der Meinung waren, Lio brauche einfach ein wenig mehr Zeit, spürten Nina und Jonathan schnell, dass da mehr sein muss. „Ein Kinderpsychologe bescheinigte uns dann, ohne Lio kennen gelernt zu haben, ADHS.“
Lio geht erst nur zwei Stunden, dann gar nicht mehr in die Schule
Nina und Jonathan ahnen, dass das nicht alles ist; die Familie wünscht sich Klarheit. „Lio hat ein riesiges Fragezeichen im Kopf. Er spürt, dass was mit ihm los ist und will Hilfe“, sagt Jonathan. Der 34-Jährige versucht, weiter in seinem Job als Architekt zu arbeiten. Doch es vergeht kaum eine Woche, in der er nicht einen Notfallanruf erhält. Im November verschärfte sich die Situation drastisch. Lio tobt jetzt nicht mehr nur, er droht mit Suizid, steht am geöffneten Fenster und will springen. Mal wieder bekommen die Eltern keine Hilfe. Lio geht deshalb seit den Weihnachtsferien nicht mehr zur Schule – zu gefährlich ist die Situation trotz eigentlich bestehender Schulpflicht. Der Junge wohnt nur noch am Wochenende daheim. „Er ist bei der Oma, weil es durch die Aggressionen mit den Brüdern nicht mehr ging. Es muss was passieren. Wir wollen Lio bei uns haben, aber erst mal braucht er Hilfe, damit wir alle nach vorne schauen können.“
Unterstützung Wer Tipps hat, kann sich per Mail an rems-murr-fellbach@stzn.de an unsere Redaktion wenden. Wir leiten die Post an die Familie weiter.
Die Autismus-Spektrum-Störung
Entwicklung
Autismus-Spektrum-Störungen sind neurologische Entwicklungsstörungen. Ihre Kennzeichen sind gestörte soziale Interaktion und Kommunikation, wiederholte und stereotype Verhaltensmuster sowie ungleichmäßige geistige Entwicklung. Die Symptome beginnen in der frühen Kindheit. Die Ursache ist bei den meisten Kindern unbekannt, eine genetische Mitbeteiligung wird vermutet. Die Diagnose basiert auf der bisherigen Entwicklung und Beobachtung. Die Behandlung besteht in Verhaltenstraining und teils medikamentöser Therapie.
Nervensystem
Betroffene zeigen Unterschiede in der Entwicklung des Nervensystems, die als Störungen der neurologischen Entwicklung betrachtet werden. Es handelt sich um neurologisch bedingte Umstände, die früh in der Kindheit auftreten, in der Regel vor Schuleintritt und die die Entwicklung von persönlicher, sozialer und/oder beruflicher Funktion betreffen. Häufig sind eine gleichzeitig bestehende geistige Behinderung, Konzentrationsstörungen, Ängste, Zwänge, Essstörungen, Tics, Selbstverletzungen und Epilepsie.