Sanel M. wird zu Prozessbeginn in den Gerichtssaal geführt Foto: dpa

Das Verfahren gegen Sanel M. geht in die entscheidende Runde. Ein Antrag der Verteidigung könnte nun dafür sorgen, dass der komplette Prozess neu aufgerollt werden muss.

Darmstadt - Im Prozess um den Tod der Studentin Tugce Albayrak hat die Verteidigung einen Befangenheitsantrag gegen den Vorsitzenden Richter Jens Aßling gestellt. Die Anwälte des wegen Körperverletzung mit Todesfolge angeklagten Sanel M. werfen dem Gericht vor, es deute das Überwachungsvideo aus der Tatnacht auf einseitige Weise. „Das Gericht behauptet, das Video zeige, wie der Angeklagte sich unmittelbar vor seinem Schlag auf das Opfer zubewege“, erklärte Verteidiger Kuhn. Das sei durch das Video aber keinesfalls gedeckt. Im Gegenteil: Vor dem fatalen Schlag laufe Tugce auf Sanel M. zu.

Der Anwalt bezieht sich auf ein Schreiben des Landgerichts Darmstadt an das Oberlandesgericht (OLG), das Mitte März über eine Haftbeschwerde von Sanel M. befinden sollte. Kuhn und seine zwei Kollegen hatten beim OLG für Sanel M. eine Beschwerde gegen die Untersuchungshaft eingereicht. Das Landgericht habe dem übergeordneten Gericht als Entscheidungsgrundlage jedoch nicht die vollständige Ermittlungsakte zur Verfügung gestellt. Das Überwachungsvideo habe das OLG nie bekommen, stattdessen in schriftlicher Form eine einseitige Deutung der Aufnahmen durch das Landgericht Darmstadt, wie Kuhn kritisiert.

Richter spricht von einem Missverständnis

Der Vorsitzende Richter erklärte, es hätte sich um ein Missverständnis zwischen ihm und der Staatsanwaltschaft gehandelt, die er mehrfach gebeten hätte, dem OLG das Video zu übergeben. Über den Antrag müssen nun ein Vertreter des Vorsitzenden Richters sowie die beiden beigeordneten Richter der Großen Strafkammer befinden. Verteidigung und Nebenklage rechnen mit einer Entscheidung am kommenden Mittwoch – spätestens jedoch am 12. Juni, dem laut Planung vorletzten Verhandlungstag. Würde dem Antrag stattgegeben, müsste der Prozess neu aufgerollt werden.

Oberstaatsanwalt Alexander Homm hält dieses Szenario für unwahrscheinlich: „Eine verzerrte Darstellung hat bei der Beweisaufnahme nicht stattgefunden.“ Es gebe keine Indizien, dass der Richter eine innere Haltung eingenommen habe, die ihn befangen mache. „Ich denke, das ist taktisch motiviert, um das Gericht noch stärker unter Druck zu setzen und um vielleicht einen Anhaltspunkt für eine mögliche Revision ins Spiel zu bringen“, sagte Macit Karaahmetoglu, der als Nebenklageanwalt die Familie Albayrak vertritt. Verteidiger Stephan Kuhn beteuerte, er habe kein Interesse daran, das Verfahren in die Länge zu ziehen. Auch mit seiner Erklärung habe der Richter nicht alle Vorwürfe ausgeräumt.

Karaahmetoglu zog derweil die Unabhängigkeit eines am Mittwoch befragten Türstehers in Zweifel. Der 29-Jährige hatte Sanel M. als nicht aggressiv beschrieben und den Freundinnen Tugces in zentralen Punkten widersprochen. Karaahmetoglu überreichte dem Gericht am Freitagmorgen Kopien zweier Facebook-Profile und führte aus: „Der scheinbar unabhängige Zeuge ist mit drei Freunden des Angeklagten bei Facebook befreundet und hat kürzlich einen Beitrag geliked, in dem einer von Sanel M.s Freunden dessen Freiheit fordert.“

Das Gericht befragte am Freitag zahlreiche Zeugen. Ein Polizeibeamter, der Sanel M. als Erster darüber aufgeklärt hatte, dass Tugce an ihren Verletzungen sterben könnte, sagte, der 18-Jährige habe darauf nicht reagiert. Darüber hinaus habe man ihm mitgeteilt, Sanel M. sei bei seiner Festnahme aggressiv gewesen. Der Streifenpolizist, der Sanel M festgenommen hatte, widersprach dem: „Er hat nur gesagt, dass er sich nicht vorstellen könne, dass jemand von einer Ohrfeige so starke Verletzungen davonträgt.“ Danach habe er geschwiegen und auf seine Anwälte verwiesen.