Ein 20-Jähriger aus Afghanistan steht jetzt wegen eines Messerangriffs vor dem Landgericht Stuttgart. (Symbolbild) Foto: Weingand/STZN

Der mutmaßliche Messerstecher von Plüderhausen redet beim Prozessauftakt vor dem Stuttgarter Landgericht viel – doch die Richterin glaubt ihm kein Wort. Dann geben das Opfer und sein Anwalt dem 20-Jährigen eine riesige Chance.

Plüderhausen/Stuttgart - Wehrloser kann kein Mann sein“, sagt die Vorsitzende Richterin: Auf einen nackten, am Boden liegenden Mann soll Amir W. in Plüderhausen in der Nacht auf den 15. Juli 2018 eingestochen haben. Das Opfer war der Vater seiner Ex-Freundin – und der Tatort dessen eigenes Haus. Die Version des Opfers hat der Angeklagte am ersten Prozesstag vor dem Landgericht Stuttgart im Wesentlichen eingeräumt.

W. stieg demnach über den Balkon in das Zimmer der Jugendlichen ein. Als der Vater ins Zimmer kam, soll er sich hinter einer Tür verborgen haben. Als der 53-Jährige ihn entdeckte und versuchte, die Tür zu schließen, soll W. ihn zunächst mit einem 17 Zentimeter langen Fleischermesser, das er dabei hatte, an der Schläfe verletzt haben. Dann versuchte der Familienvater, die Zimmertür von außen zuzuhalten – doch als er die Blutung an seinem Kopf bemerkte, ging er zu Boden.

Das Messer durchtrennt teilweise den Wadenmuskel des Familienvaters

W. hätte nun die Gelegenheit gehabt, über den Balkon zu fliehen. Doch nach eigenen Angaben stach und schnitt er wahllos auf den Verletzten ein. Insgesamt acht Verletzungen listet die Staatsanwältin auf – unter anderem war der Wadenbeinmuskel des Opfers teilweise durchtrennt. Die scharfe Waffe hinterließ sogar Spuren auf dem Knochen des Opfers. Als der Täter seine Maske zurecht rückte, gelang dem Schwerstverletzten die Flucht durch ein Fenster aufs Dach.

Dass sich diese Bluttat ereignet hat, räumte W. ein. Doch wie es dazu kam, darüber scheiden sich die Geister: Die Staatsanwaltschaft geht von versuchtem Mord aus. Und die Richterin machte keinen Hehl daraus, dass sie die Version der Vorgeschichte, die W. sehr leise und mit gesenktem Blick von einem Dolmetscher übersetzen ließ, nicht glaubt. „Unterschätzen Sie mich intellektuell nicht“, herrschte sie den Angeklagten an. Doch der beteuerte, seine Ex-Freundin habe ihn immer wieder kontaktiert, obwohl er Schluss gemacht hätte. An diesem Abend habe er Alkohol getrunken. „Ich habe darüber nachgedacht, was aus meinem Leben geworden ist“, erzählte er. Deswegen habe er seine Ex „erschrecken“ wollen.

Wollte der junge Mann eigentlich seine Ex-Freundin umbringen?

Warum er dafür auf den anderthalb Stunden langen Fußmarsch von Schorndorf nach Plüderhausen ein 17 Zentimeter langes Fleischermesser im Hosenbund mitnahm, konnte er nicht erklären. „Ich wollte niemandem etwas antun“, beteuerte er. Die Handschuhe und einen Schal hätte er zufällig „in der Jackentasche“ dabeigehabt. „Den Schal, in den Löcher für Augen und Mund geschnitten waren, hatten Sie im Juli also einfach so dabei?“ – die Richterin war regelrecht amüsiert. Dass Amir W. dem 53 Jahre alten Mann nicht habe schaden wollen, glaube sie ihm sogar. „Aber vielleicht wollten Sie ja ihre Ex-Freundin umbringen oder vergewaltigen. Oder erst vergewaltigen und dann umbringen.“

Als ursprüngliches Tatmotiv vermutet die Staatsanwaltschaft Eifersucht. W. behauptet, die Tochter des Opfers habe immer wieder Kontakt zu anderen Jungen gehabt. „Ich habe ihr gesagt, dass ich ein sauberes Mädchen will“, erzählte der 20-Jährige, der als unbegleiteter minderjähriger Flüchtling aus Afghanisten nach Deutschland gekommen war. Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass er nach seiner Entdeckung den 53-Jährigen töten wollte, um seine Identifizierung zu verhindern.

Der Angeklagte vergibt eine Chance auf Vergebung

Der Rechtsanwalt Jens Rabe, der das Opfer vertritt, gab W. schließlich eine Steilvorlage. „Mein Mandant hat sogar überlegt, Sie im Gefängnis zu besuchen. Er möchte Ihnen verzeihen – aber das kann er nur, wenn er die Wahrheit von Ihnen hört“, redete er dem jungen Mann ins Gewissen. Doch der Angeklagte wand sich förmlich, um einen Blickkontakt zu dem breitschultrigen Geschädigten zu vermeiden – und blieb bei seiner Version, er habe niemandem schaden wollen. „Ich schwöre auf den Koran“, sagte er.

Am Nachmittag wird das Opfer aussagen und seine Erlebnisse schildern.