Die neue Einbahnstraße ab Höhe Dinkelacker verursacht abends derzeit noch regelmäßig Staus. Foto: Nina Ayerle

Seit dieser Woche ist die Verbindungsstraße zwischen Marienplatz und Paulinenbrücke offiziell Fahrradstraße. Über eine neue Einbahnstraßenregelung soll zudem der Autoverkehr auf die Hauptstätter Straße umgeleitet werden.

S-Süd - Autofahrer und Radfahrer – das ist in Stuttgart eine ganz spezielle Verbindung. Jede Einschränkung der grenzenlosen Fahrfreiheit, jeder wegfallende Parkplatz erzürnt den passionierten Autofahrer, die Radler fühlen sich in der Heimatstadt des Automobils per se benachteiligt. Gut zu beobachten ist dieser Interessenskonflikt, wem denn nun die Straßen gehören, seit Anfang dieser Woche auf der Tübinger Straße zwischen Marienplatz und Paulinenbrücke.

In der Tübinger Straße herrscht Anarchie

Vor allem zur Feierabendzeit herrscht quasi Anarchie. Zwischen parkenden Autos links und rechts an der Straßenseite drücken und schieben sich Autos auf der engen Fahrbahn durch, dazwischen finden sich irgendwo die radelnden Verkehrsteilnehmer wieder. Die Autofahrer machen ihrem Ärger mit Hupkonzerten Luft. „Es ist das pure Chaos – ein Knäuel von Autos, die sich wieder auf die völlig überlastete B14 durch zu drücken versuchen, während Radfahrer nicht mehr durch die abbiegenden Fahrzeuge hindurchkommen. Wer, wenn man das mal fragen darf, kommt auf derartig unausgegorene, absurde Lösungen?“, schreibt Leser Til über Facebook. Eine andere Leserin ist ebenfalls nicht erfreut: „Ich wohne gegenüber von Dinkelacker und kann definitiv sagen, dass seit der Fahrradstraße alles schlimmer ist als davor“, schreibt sie.

Seit Anfang der Woche ist die Tübinger Straße vom Marienplatz bis zur Paulinenbrücke offiziell als Fahrradstraße ausgewiesen. Damit sind die Radfahrer das vorrangige Verkehrsmittel, der Kfz-Verkehr muss sich den Radlern unterordnen. Autos dürfen jetzt auf der Tübinger Straße nur noch langsam fahren, Höchstgeschwindigkeit ist Tempo 30.

Viele Autofahrer ignorieren die neue Einbahnstraße

Für Verwirrungen sorgt bei vielen Ortskundigen derzeit auch noch, dass die Tübinger Straße seit dieser Woche zwischen Römer- und Cottastraße stadteinwärts zur Einbahnstraße deklariert wurde. Dies bedeutet, dass Autofahrer nun nicht mehr – wie in früheren Zeiten – durchgängig von der Paulinenbrücke in Richtung Marienplatz fahren können. Auf Höhe der Brauerei Dinkelacker müssen Autofahrer jetzt nach links in die Cottastraße abbiegen und auf der Hauptstätter Straße weiterfahren. Dieser Umweg ärgert natürlich viele Autofahrer. Für Radfahrer gilt die Einbahnregelung nicht.

Und natürlich ist diese neue Einbahnstraße sachgerecht ausgeschildert – mit denen in der deutschen Straßenverkehrsordnung gängigen und eigentlich jedem Führerscheinbesitzern bekannten Einbahnstraßenschildern – nur viele übersehene dies bisher einfach, weil sie es gewohnt sind, direkt zum Marienplatz durchzufahren. Andere wiederum ignorieren die neue Ausschilderung nach kurzem Warten im Stau schlicht. Bezirksvorsteher Raiko Grieb sieht dies insgesamt aber noch nicht ganz so dramatisch: „Das braucht Zeit und einen Lerneffekt, gerade bei denen, die diese Strecke täglich fahren.“

Die neue Situation für die Radfahrer – sie haben nun eben Vorfahrt – überfordert die meisten Verkehrsteilnehmer ebenfalls. Und auch die Radler machen ihrem Ärger vor Ort laut Luft und der eine oder andere ruft einem Autofahrer ein nachhaltiges, aber meist wirkungslos verhallendes „Halloo? Fahrradstraße!“ hinterer.

„Ich muss auch meine Radler beruhigen und zum Abwarten ermahnen“, sagt die Stadträtin und Fahrradstraßen-Befürworterin Christine Lehmann. Die Grünenpolitikerin fährt selbst täglich diese Strecke, sie setzt sich zudem mit ihrem Blog „Radfahren in Stuttgart“ für eine Verbesserung des Radverkehrs in der Landeshauptstadt ein. Sie ist zuversichtlich, dass sich die Situation entspannen wird: „Mein Gott, wir haben das jetzt seit einer Woche.“ Dennoch müssen ihrer Meinung nach die Autofahrer eben lernen, dass die Tübinger Straße kein Schleichweg mehr ist. „So wollte man das haben.“ Auch der Bezirksvorsteher und der Bezirksbeirat Süd haben genau dies im Vorfeld gefordert: Weniger Verkehr auf der Tübinger Straße. „Ziel ist ja, dass die Menschen auf öffentliche Verkehrsmittel umsteigen“, sagt Grieb (SPD).

Zwischen Marienplatz und Paulinenbrücke sind mehr Radler als Autofahrer unterwegs

Die rechtliche Situation auf der Tübinger Straße ist klar: Die Voraussetzung für eine Fahrradstraße in Deutschland ist vorhanden, wenn auf einer Straße der Radverkehr nachweisbar die vorherrschende Verkehrsart ist. Eine Verkehrszählung durch das Ordnungsamt im Juni 2015 ergab, dass dort inzwischen mehr Radler als Autofahrer unterwegs sind.

Die Tübinger Straße ist neben der Eberhardstraße die zweite Fahrradstraße in Stuttgart, das im Vergleich mit anderen deutschen Großstädten hinterherhinkt. Rund 140 Fahrradstraßen gibt es hierzulande; Kiel, Hannover, Berlin und München sind Vorreiter. Die bayrische Landeshauptstadt führt mit 58 Fahrradstraßen.

Gerade deshalb – und trotz des Chaos – ist Christine Lehmann zufrieden. Lange genug hat die Fahrradlobby für diese Straße gekämpft. Zudem werde die Verkehrsführung, also Einbahnstraße und Vorfahrtsregelung, ein Jahr lang getestet. „Vielleicht muss man noch nachbessern“, sagt sie. Aber ein Zurück werde es nicht geben.