Radfahrer queren Autofahrer: Zur Feierabendzeit herrscht Durcheinander an der Ecke Cotta-/Tübinger Straße.. Foto: Lichtgut/Achim Zweygarth

Vor zwei Monaten hat sich die Verkehrsführung auf der Tübinger Straße geändert: Die Vorfahrtsregelung ist ebenso neu wie die Einbahnstraße vom Marienplatz bis zur Cottastraße. Zudem haben Radler dort nun Vorfahrt – eine Bilanz.

Stuttgart-Süd - Seit Mitte Juli ist die Tübinger Straße als Fahrradstraße ausgewiesen, Radfahrer haben dort nun Vorfahrt. Zwischen parkenden Fahrzeugen an der Straßenseite schieben sich Autos auf der engen Fahrbahn hindurch, dazwischen drängeln sich unzählige Radler, die ihre neuen Rechte in Anspruch nehmen. So sah die Situation an der Tübinger Straße vor knapp zwei Monaten aus. Mit Einführung der Fahrradstraße hat sich zudem die Verkehrsordnung geändert: Die Tübinger Straße ist nun zwischen Römer- und Cottastraße stadteinwärts eine Einbahnstraße. Autofahrer müssen nun, aus der Stadt kommend, nach links auf der Cottastraße zur Hauptstätter Straße fahren. Früher galt zudem an den Straßenkreuzungen rechts vor links. Nun haben Rad- und Autofahrer auf der Tübinger Straße an den Kreuzungen Vorfahrt.

Anfangs herrschten anarchische Zustände zwischen Radlern und Autofahrern

Beides, die Fahrradstraße und die neuen Regelungen, polarisierten anfangs stark: Autofahrer fühlten sich gegängelt, Anwohner eingeschränkt und Fußgänger übergangen. Politik und Verwaltung waren aber überzeugt, die Situation entspanne sich, wenn sich alle Verkehrsteilnehmer an die Situation gewöhnt haben.

Für manche sind die anarchischen Zustände bereits vorbei: „Derzeit habe ich nichts zu bemängeln“, sagt Anwohnerin Elisabeth Klimesch. Die 92-Jährige ist zu Fuß unterwegs und, wie sie sagt, „nicht mehr so flott“. Anfangs habe sie bei der Straßenüberquerung auf ihrem Weg über die Tübinger Straße in Richtung Marienkirche Angst gehabt: „Es war ein wildes Durcheinander.“ Die schwierige Situation für Fußgänger hatte Susanne Scherz, beim Amt für öffentliche Ordnung für die Fahrradstraße zuständig, bereits vor der Einführung im Bezirksbeirat Süd angeprangert. Ihre Befürchtung: Radler und Autofahrer müssen nun an den Knotenpunkten nicht mehr bremsen, die Querung der Straße werde für Fußgänger unübersichtlicher. Zebrastreifen oder Fußgängerampeln gibt es nicht.

Laut Klimesch habe das Durcheinander nachgelassen. Sie fühlt sich sicherer. Auch Raiko Grieb, der Bezirksvorsteher im Süden, ist der Auffassung, dass sich die Lage entspannt hat. Doch ganz optimal sei es noch nicht, gesteht er. Es brauche mehr Zeit. Daran glaubt Stephane Clerc – Radler und Autofahrer – aus dem Süden nicht. Das Problem ist für ihn systemimmanent: „Es werden Straßen zu Fahrradstraßen, auf denen weiterhin Autos unterwegs sein dürfen.“ Das führe zu Chaos. „Wenn Fahrradstraße, dann richtig.“ Sein Vorschlag zur Verbesserung: „Auf der einen Seite fahren Autos, auf der anderen die Radfahrer.“ Dann könnte die Tübinger Straße mit ihren sonstigen Qualitäten eine der schönsten Straßen Stuttgarts werden, „mit einem Hauch von Vesterbro“, so träumt er. Für Einzelhändler und Anwohner hätte eine Straße mit dem Charme von Kopenhagens Szeneviertel sicher Vorteile. Bisher fühlen die sich aber ausgegrenzt: Als „großen Mist“ bezeichnet Liane Körner vom Sanitätshaus Griessinger die Regelung. Sie müsse eine Stadtrundfahrt machen, wenn sie zu ihrem Laden will. Anderen Händlern ginge es ähnlich. „Aber der Autoverkehr hat abgenommen“, so ihre Einschätzung.

Polizeikontrollen ergaben viele Verstöße gegen die Einbahnstraße

Problematisch ist nach wie vor der Abschnitt vor der Einbahnstraße auf Höhe von Dinkelacker in Richtung Marienplatz. Dort bildet sich zur Feierabendzeit eine lange Autoschlange, die Radler schlängeln sich dazwischen durch. Und: „Viele Autofahrer respektieren die Einbahnstraße noch nicht“, sagt Susanne Scherz. Polizeikontrollen zu Beginn ergaben teilweise zehn Verstöße pro Stunde. Beschwerden und Verstöße ließen jedoch nach. Die Polizei beobachte die Lage aber weiter.

Nach einem Jahr ziehe man Bilanz, ob Vorfahrt und Einbahnstraße funktionieren. Beides ist noch ein Test, die Fahrradstraße hingegen bleibt. Eine Verkehrszählung im Juni 2015 ergab, dass in der Tübinger Straße mehr Rad- als Autofahrer unterwegs sind. Damit war der Weg für die Fahrradstraße frei. Angekündigt werde so eine Verkehrszählung übrigens nicht. „Da mauscheln wir nicht“, betont Scherz. Manch Anwohner vermutete gar unlautere Mittel. Eine Zählung wurde bei schlechtem Wetter gemacht. Dennoch wären die Radler in der Überzahl gewesen. Die Achse liege eben gut für den Radverkehr, so Scherz. Überrascht war man ob der vielen Fußgänger dort.

Radverkehr in Stuttgart

Rechtslage: An der Tübinger und der Eberhardstraße haben Radler Vorfahrt vor den Autofahrern. Radler dürfen sogar nebeneinander fahren. Fahrradstraßen kommen rechtlich dann in Betracht, wenn der Radverkehr die vorherrschende Verkehrsart ist.

Untersuchung: Im Fahrradklimatest von 2014 des Allgemeinen Deutschen Fahrradclubs (ADFC) landete Stuttgart auf Rang 28 (von 39) bei Städten mit mehr als 200 000 Einwohnern. Es ging unter anderem um die Qualität für Radfahrer in deutschen Städten. Die Studie zeigte deutliche Schwächen Stuttgarts auf: So ist die Akzeptanz der Radfahrer weiterhin gering. In der Gesamtwertung erhielt die Stadt von den Radlern lediglich die Note 4.

Vergleich: Die Tübinger Straße ist neben der Eberhardstraße nun die zweite Fahrradstraße in Stuttgart. Damit hängt die schwäbische Landeshauptstadt im bundesdeutschen Vergleich hinterher. Rund 140 Fahrradstraßen gibt es hierzulande; Kiel, Hannover, Berlin und München sind Vorreiter. Die bayrische Landeshauptstadt führt mit 58 Fahrradstraßen.