Die Menschen in „Fahrenheit 451“ (v . li. Jonas Grundner-Culemann, Dominik Weber, Lea Beie und Laura Eichten) leben auf der Asche der Literatur – und doch im Werbeschick. Foto: Theater

Das Theater Nord bringt Ray Bradburys Roman „Fahrenheit 451“ schön makaber auf die Bühne. In einer nahen Zukunft rottet die Feuerwehr die Literatur aus, um störende Gedanken zu beseitigen. Viele Bürger sind damit ganz glücklich. Ausgerechnet ein Feuerwehrmann wird unruhig.

Stuttgart - Bleiche Gestalten, draußen, drinnen. Vor der Fassade des Hauses liegt schwarz die Asche von verbrannten Büchern. Menschen unterm Regenschirm blicken hinein, in die Puppenstube, in der Guy und Mildred Montag leben. Guy Montag ist der Feuerwehrmann, dessen Beruf es ist, Feuer zu legen. Das Schauspiel Nord zeigt „Fahrenheit 451“, bringt Ray Bradburys Roman von 1953 als entschleunigtes Traumspiel aus betäubten Zeiten auf die Bühne.

Regisseur Wilke Weermann und seine Dramaturgen Fabian Schmidtlein und Maximilian Wahnelt studieren an der Akademie der Darstellenden Kunst; Johanna Stenzel und Lynn Scheidweiler, Bühne und Kostüme, sind Studierende der Bildenden Künste. Gemeinsam haben sie einen der großen anti-utopischen Romane des 20. Jahrhunderts auf ungewöhnliche Weise inszeniert. Hier wird nicht flott, stringent erzählt, hier scheint die Zeit still zu stehen.

Marionettenhafte Menschen

Lea Beie, Laura Eichten, Jonas Grundner-Culemann und Dominik Weber sind in wechselnden Rollen zu sehen - als Guy und Mildred, als Feuerwehrhauptmann Beatty, als Clarisse, das Mädchen von nebenan, das Montag zur Lektüre verführt, als Leserin, die mit den Büchern brennt, als Mildreds Ersatzfamilie, die auf drei Fernsehwänden belanglos schwafelt. Alle Darsteller sind blass geschminkt, tragen weiße Kleidung, weiße Perücken, sprechen mit seltsam verschleppter Betonung, hilflos geronnener Mimik, bewegen sich marionettenhaft ruckend, rudernd, Amöben gleich, die in einer Flüssigkeit schweben. Im Foyer des Nord erhalten die Besucher vor Beginn der Aufführung Kopfhörer. Die Schauspieler werden ihnen später bedeuten, diese Hörer aufzusetzen, abzunehmen - ein Wechsel, der nicht immer reibungslos vonstatten geht, was gewiss beabsichtigt ist.

Mitunter läuft der Ton im Hörer weiter, während auf der Bühne bereits gesprochen wird; mitunter ist im Raum nur das Rauschen des unsichtbaren Straßenverkehrs vernehmbar – und die Dialoge, die von einer Stimme oder einem Chor gelesenen Romanpassagen erklingen im Hörer. Die Körper, ihr Handeln und die Worte driften auseinander. Was die Welt zusammenhält, Kontinuität schafft, das ist vor allem die Erinnerung. Für Menschen, die kein Gestern kennen wollen und die Düsenjäger am Himmel ignorieren, besitzt nichts mehr Bedeutung.

Die Feuerwehr lässt es brennen

Ray Bradburys Geschichte von der Bücherfeuerwehr ist – bezeichnend genug – längst so tief ins kollektive Kulturbewusstsein eingesunken, dass sich die Lektüre seines Romans zu erübrigen scheint. Leicht fällt es dabei, Wesentliches zu übersehen: dass „Fahrenheit 451“ keine Dystopie im herkömmlichen Sinne ist, sondern poetischer Albtraum einer Welt ohne Poesie.

„Es kam gar nicht von oben“ - so erklärt der Feuerwehrhauptmann Beatty es Montag. „Wir haben das selbst geschafft.“ Die Feuerwehr, die Bücher verbrennt, fährt Beatty fort, bringe nur das Glück. Das Glück des Vergessens nämlich. Aus den Flammenwerfern dringt dichter Nebel, der die Szene verhüllt. „Warum“, fragt Beatty, „wollen Sie ihre letzten Stunden im Käfig damit zubringen, dass Sie sich einreden, kein Eichhörnchen zu sein?“

Interessant ist, dass bei Weermann auch das Bild der „heteronormativen Familie“ vor die Flammenwerfer kommt. Dass Guy, als er Mildred Gleichgültigkeit vorwirft, nicht nur von den täglichen Selbstmorden, Gewaltverbrechen, Verkehrstoten, auch von Abtreibungen spricht. Einen konservativen Ton gibt es bei Bradbury ebenfalls, milde, angemessen: Erinnern heißt bewahren. Die „neue Idee“ dagegen geistert in vielen Varianten durch das Stück. Auch die Bücherverbrennung war eine „neue Idee“ - eine des Volkes.

Die Realität wird Seifenoper

Die Bühne dreht sich, die Zuschauer, gerade noch Voyeure am Fenster, blicken ins Innere des Hauses der Montags. Johanna Stenzel hat die Szene in Pink und Türkis eingerichtet, im Kopfhörerohr singen die Andrew Sisters - „Civilization“ heißt ihr Lied: „Bongo, Bongo, Bongo, I don’t want to leave the Congo“. Das Interieur ruft die 1950er Jahre auf, als Zeit maximaler Verdrängung, vermeintlich heilster Welt. Mildred verliert sich im Spiel mit ihrer TV-Familie; die Seifenoper ergreift von der Wirklichkeit Besitz. Und Montag hat vor den Flammen ausgerechnet einen Band Rilke gerettet: „Die Einsamkeit ist wie ein Regen“, liest er. „Sie steigt vom Meer den Abenden entgegen.“

Wilke Weermann hat viele Ideen in „Fahrenheit 451“ hinein geworfen, versucht vieles - und es gelingt ihm, auf widerspenstige aber fesselnde Weise. Der Stillstand, die Stagnation, das Zerreißen der Kommunikationswege und Zusammenhänge, die monotonen Loops des schmerzfrei glücklichen Lebens, das lange Schweigen - sie fordern das Publikum. Momente makabrer Komik erlösen es, stille, intensive Bilder schlagen es in seinen Bann. Und eine Brücke von Ray Bradburys 65 Jahre alter Vision in die Gegenwart schlägt der Regisseur immer wieder mit Leichtigkeit. „In jedem Auto sitzt nur eine Person, und alle ärgern sich, wenn sie im Stau stehen“ - diesen Satz hat Weermann wohl eher in Stuttgart als bei Ray Bradbury aufgelesen.