Allenfalls die Camorra entspricht noch dem Klischee der Mordmaschine, die mächtigeren Mafia-Formationen ’Ndrangheta und Cosa Nostra nicht. Ihre Schlagkraft scheint indes ungebrochen.
Palermo/Stuttgart - Auf Fragen nach der Mafia folgt in Palermo derzeit oft diese Antwort: „Wohin man schaut, wir sind nur noch zweite Liga.“ Das ist eine Anspielung darauf, dass US Palermo im Mai aus Italiens höchster Fußball-Spielklasse abgestiegen ist. Vor allem aber ironisiert dieser Satz, dass die in Kalabrien beheimatete ’Ndrangheta an Gefährlichkeit und Bedeutung der sizilianischen Cosa Nostra den traditionellen Spitzenrang unter Italiens Mafia-Formationen abgelaufen hat – begünstigt durch ihre festen, von außen kaum zu durchdringenden Bande der Blutsverwandtschaft und der Vielzahl ihrer Familien.
Antonio Amoroso, Chef der Anti-Mafia-Direktion (Direzione Investigativa Antimafia, DIA) in Palermo, verweist auf den großen Bruch in der Geschichte der sizilianischen Cosa Nostra. Nach den internen Kriegen in den achtziger und nach der bis dahin beispiellosen Mord- und Terrorwelle gegen den Staat in den frühen neunziger Jahren sehe die Situation heute so aus: „Fast alle Oberbosse der Cosa Nostra wurden zu lebenslänglichen Freiheitsstrafen verurteilt und unterliegen fern von Sizilien besonderen Haftbedingungen.“ Die Cupola, das oberste Entscheidungsgremium der bis heute streng hierarchisch organisierten Cosa Nostra, sei nicht mehr handlungsfähig, meint Amoroso.
„Heute lässt die Cosa Nostra das Geld laufen“
Sein Amtssitz, die Villa Ahrens in Palermos Stadtviertel San Lorenzo, sieht aus wie das Stein gewordene Zeugnis dieses Triumphes: Stilvoll renoviert inmitten eines perfekt gepflegten Gartens bietet sie ein Bild des Friedens. Und damit den Maximal-Kontrast zum Palermo vor 30 Jahren, in dem sich Dauergeheul von Sirenen und das Knattern von Hubschraubern mit den Lautsprecherrufen der Brotverkäufer zum Soundtrack dieser Stadt vermischten.
„In Palermo passiert auf offener Straße nichts mehr“, sagt der sizilianische Mafia-Experte, Autor und Journalist Felice Cavallaro. „Heute schießt die Cosa Nostra nicht mehr, sie lässt das Geld laufen.“
Und das geht so: Die Aktivitäten zielen darauf ab, Zugang zu großen öffentlichen Geldern und Aufträgen zu bekommen – im kommunalen wie im europäischen Maßstab. Die Mafia macht sich im Baugewerbe, im Gewässerschutz, Gesundheitswesen, der Müllverwertung breit. „Auf diesen Feldern sind große Umsätze mit garantiert hohen Renditen zu erzielen“, sagt DIA-Direktor Amoroso. Darüber hinaus konzentriert sie sich auf den besonders rentablen Drogenhandel und den Wettbetrug. Die Anzeichen häufen sich, dass sie im Handel mit Flüchtlingen eine immer größere Rolle spielt.
Das sizilianische Modell
Die Polizei registriert außerdem zunehmend Allianzen zwischen den verschiedenen Mafia-Formationen. Amoroso verweist auf einen Fall, in dem die DIA im vergangenen Herbst aufgedeckt hat, wie sich die Casalesi, der berüchtigtste der im Gebiet von Neapel aktiven Camorra-Clans, mit der Cosa Nostra die Kontrolle über den Betrieb des Obst- und Gemüsemarktes von Fondi in der Region Lazio teilten. Das klingt nach kleinteiligem Geschäft. Aber es klingt keineswegs nach zweiter Liga, wenn Amoroso über die Cosa Nostra sagt: „Was sie von jeher von den anderen Mafia-Gruppen unterscheidet, ist ihre Geschlossenheit, ihre Zähigkeit, ihre strategische Ausrichtung. Die Verflechtung mit dem gesellschaftlichen Umfeld und die dichte Präsenz in ihren Stammgebieten gehören zu ihren Stärken wie die Fähigkeit, sich Veränderungen anzupassen.“
Dagegen sei die Camorra bloß eine Ansammlung Hunderter „winziger, hochaggressiver, häufig untereinander verfeindeter Clans, geleitet häufig von blutjungen, skrupellosen und gewalttätigen Anführern“. Die kalabresische ’Ndrangheta fange übrigens gerade an, „das sizilianische Modell“ zu imitieren, indem sie Organismen bilde, die den einzelnen Familien übergeordnet sind. Gegen das Zweite-Liga-Etikett spricht auch dies: Vor wenigen Tagen hat die italienische Regierung den Gemeinderat der sizilianischen Stadt Castelvetrano „wegen erwiesener Unterwanderung durch das organisierte Verbrechen“ aufgelöst. Sie hat den Ort für die nächsten 18 Monate unter Direktverwaltung gestellt und verfügt, dass vorläufig nicht gewählt werden darf im Heimatort des untergetauchten Bosses Matteo Messina Denaro.
Gerüchte über Einsickern in das Bahn-Großprojekt Stuttgart–Ulm
Um welche finanziellen Größenordnungen es in den Geschäften der Mafia geht, erhellte 2010 die Beschlagnahme von Besitz des Windkraftunternehmers Vito Nicastri durch die DIA im Wert von 1,3 Milliarden Euro. „Das ist ein Fall, der offengelegt hat, wie eng die Beziehung zwischen Mafia, Unternehmertum und Politik zuweilen ist, wie fließend die Grenze zwischen ihnen.“
Grenzen spielen auch für die Aktionsräume der Mafia eine abnehmende Rolle. Seit Jahrzehnten warnen Italiens ranghöchste Mafia-Jäger davor, dass Deutschland wichtigster Tummelplatz sei, um die riesigen kriminellen Gewinne in legale Geschäfte zu schleusen. Selbstverständlich zielt die Auslandsstrategie nicht darauf, wie in der Heimat Territorien zu kontrollieren. Vielmehr erlaubt es „die bemerkenswerte Fähigkeit, Beziehungsgeflechte zu bilden und sich zu tarnen“, wie italienische Experten sagen, der Mafia, in anderen Ländern Wirtschaft und Finanzsystem zu durchdringen. Das passe zur aktuellen Linie, keinen Alarm auszulösen. Erst recht nicht in Gesellschaften wie der deutschen, die kein Bewusstsein für die Gefahr haben, die auf sie zukommt.
Das große Rad, das die Mafia in Deutschland angeblich dreht, ist offensichtlich kaum zu bremsen. Die Gerüchte über ihr Einsickern in das Bahn-Großprojekt Stuttgart–Ulm? „Immer wieder untersucht, wir haben viele Hinweise, aber keine gerichtsfesten Beweise gefunden“, antworten darauf Ermittler des Landeskriminalamtes (LKA) Baden-Württemberg. Die DIA lehnt unter Verweis auf laufende Ermittlungen alle Kommentare zu diesem Thema ab.
Unterschiedliche Befugnisse und Rechte
Amoroso hebt „angesichts der Internationalität der Mafia“ die Bedeutung enger Zusammenarbeit mit anderen Ländern hervor, in der die DIA eine Schrittmacherrolle beansprucht. Diese Zusammenarbeit wird auch im LKA Baden-Württemberg und in deutschen Schwerpunktstaatsanwaltschaften positiv beschrieben. Ihre Wirksamkeit stößt indes an Grenzen. Zu unterschiedlich sind Befugnisse und Rechte.
Ein Ergebnis des Mafia-Terrors war: Italien hat Polizei und Justiz massiv aufgerüstet. Gesetze wie der Paragraf 416b, der selbst die „indirekte“ Mafia-Mitgliedschaft unter Strafe stellt, die Umkehr der Beweislast, wenn es um die möglicherweise kriminelle Herkunft von Vermögen geht, die knallhart angewandten Möglichkeiten, bei Mafia-Verdacht Besitz sofort zu beschlagnahmen, und strenge Isolationshaft-Bedingungen für Top-Mafiosi geben dem Staat scharfe Waffen in die Hand. In Deutschland hingegen muss vor einer Anklage wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung erst einmal deren Existenz nachgewiesen werden – was in Mafia-Fällen selten möglich ist. Trotz Clanmitglieder-Listen, über die das LKA verfügt, trotz engem Informationsaustausch mit der DIA.
Im Anti-Mafia-Kampf bleiben die Möglichkeiten der deutschen Polizei bei der Telekommunikations-Überwachung sehr weit hinter jenen der italienischen Kollegen zurück. Ob die eben erweiterten Einblickrechte in Massengerdienste wie Whatsapp oder die am 1. Juli in Kraft tretende sogenannte kleine Beweislastumkehr bei der Untersuchung mutmaßlich kriminell erworbener Vermögen daran viel ändern werden, bewerten deutsche Ermittler zurückhaltend.
Mafia-Aufnahmeritual ohne Folgen
Wer mit Männern spricht, die in Baden-Württembergs Justiz und Polizei viele Jahre gegen die Mafia gearbeitet haben, trifft deshalb auf Frustration. Zum einen, weil Terrorismus und Extremismus immer mehr Kapazitäten binden. Zum anderen wegen solcher Erfahrungen: „Wir haben einmal im Zuge der Überwachung eines italienischen Restaurants am Bodensee ein Mafia-Aufnahmeritual mitbekommen. Und was haben wir gemacht? Den Vorfall den italienischen Kollegen gemeldet, mehr nicht. Denn hierzulande ist es halt nicht strafbar, wenn jemand Heiligenbildchen verbrennt und Eidesformeln murmelt“, erinnert sich einer dieser Männer, die namentlich nicht genannt werden wollen.
Als vor zwei Jahren im Raum Konstanz acht mutmaßliche Mitglieder der ’Ndrangheta auf italienischen Antrag festgenommen wurden, verfügte letztlich das Oberlandesgericht Karlsruhe die Freilassung: Zu unklar der Internationale Haftbefehl, mancher Vorwurf nach deutschem Recht verjährt oder deutsches Recht kaum anwendbar auf das, was den Festgenommenen in Italien vorgeworfen wurde, so die Begründung.