Die Europäische Zentralbank hält den Anstieg der Inflationsrate für vorübergehend. Ihre Leitzinsen will sie erst erhöhen, wenn die Teuerungsrate länger bei zwei Prozent verharrt.
Frankfurt - Sigmund Freud hätte Spaß an der Pressekonferenz von Christine Lagarde gehabt. „Wir wollen, dass die Inflationsrate drei Prozent erreicht“, sagte die Präsidentin der Europäischen Zentralbank (EZB) am Donnerstag – um sich kurz darauf zu korrigieren: Zwei Prozent lautet schließlich das Inflationsziel der Notenbank. Doch wer, wie Freud, hinter Versprechern eine psychische Motivation vermutet, könnte auf die Idee kommen, dass Lagarde mehr Inflation anstrebt.
Tatsächlich ist das vor zwei Wochen festgelegte Inflationsziel von glatt zwei Prozent schon etwas höher als das bisherige „unter, aber nahe“ zwei Prozent. Und die neue Definition hat Folgen, wie sich am Donnerstag zeigte: Laut Beschluss des EZB-Rats sollen die Leitzinsen nämlich erst dann erhöht werden, wenn sich abzeichnet, dass die Inflationsrate für einen längeren Zeitraum bei zwei Prozent bleibt. Genauer: Ungefähr von der „Mitte unseres Projektionszeitraums“ bis zu dessen Ende, wie Lagarde erläuterte. Die aktuellen „Projektionen“, also Prognosen, der Notenbank beziehen sich auf 2021, 2022 und 2023.
Aktuell liegt die Teuerungsrate nahe zwei Prozent
Zwar hatte die Teuerungsrate im Euroraum im Mai die Zwei-Prozent-Marke erreicht und lag im Juni bei 1,9 Prozent. Im nächsten Jahr wird sie laut der jüngsten Prognose der Notenbank aber auf 1,5 Prozent zurückgehen und 2023 auf 1,4 Prozent sinken. Begründung: Die aktuellen, höheren Teuerungsraten gingen vor allem auf den Wiederanstieg der Ölpreise nach deren massivem Einbruch zu Beginn der Coronakrise zurück, erklärte Lagarde. Zwar trieben auch Lieferengpässe und Nachholeffekte beim Konsum die Preise, beides werde aber wieder abflauen.
Behält die EZB mit ihrer Inflationsprognose recht, so bedeute dies „die Fortdauer der Null- und Negativzinsen bis mindestens 2023“, resümierte Professor Friedrich Heinemann vom Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) in Mannheim.
Die EZB legt die Latte höher
Wirklich überraschend ist das nicht – schließlich hatte die EZB in den vergangenen Monaten schon wiederholt erklärt, sie werde durch kurzfristig erhöhte Inflationsraten „hindurchsehen“. Und dass sie bereits 2022 einen nachlassenden Preisdruck erwartet, war bekannt.
Doch mit der jetzt formulierten Voraussetzung für Zinserhöhungen legt sie die Latte auch für die weitere Zukunft höher als in der Vergangenheit. Denn neben dem Inflationsziel von jetzt zwei Prozent wird auch der Bezugszeitraum neu definiert: Das Ziel soll „deutlich vor dem Ende des Projektionszeitraums und dauerhaft für den Rest des Projektionszeitraums erreicht werden“. Dieser Zeitraum erstreckt sich über drei Jahre.
In seinen früheren Erklärungen hatte der EZB-Rat nur die Erwartung formuliert, „dass sich die Inflationsaussichten in seinem Projektionszeitraum“ dem erwünschten Niveau „annähern“ sollten. Praktisch folge die EZB dem Vorgehen der US-Notenbank, „die ihre Geldpolitik nicht mehr auf der Basis von Prognosen ändern will, sondern erst, wenn ihre Inflations- und Beschäftigungsziele erreicht sind“, kommentierte Michael Holstein von der DZ Bank.
Lagarde: „Zügel nicht vorzeitig straffen“
Trotz dieser Signale für eine Festschreibung der lockeren Geldpolitik gab der Deutsche Aktienindex (Dax) im Laufe von Lagardes Pressekonferenz einen Teil seiner Gewinne ab. Einige Börsianer hatten wohl mehr erwartet: Vor der EZB-Sitzung war spekuliert worden, die Notenbank könnte die Tür für eine Verlängerung oder Ausweitung ihrer umstrittenen Anleihekäufe öffnen.
Stattdessen blieb es bei der Ansage, das bei Ausbruch der Coronakrise aufgelegte Kaufprogramm PEPP mindestens bis Ende März 2022 fortzusetzen. Zwar bekräftigte Lagarde, falls sich die Finanzierungsbedingungen für Unternehmen verschlechtern sollten, könnte die EZB nachlegen. Aktuell seien die Zinssätze für Kredite an Firmen und Verbraucher aber historisch günstig. Ziel der Notenbank sei nicht, sie noch weiter zu drücken, aber „keiner von uns will die Zügel vorzeitig straffen“, erklärte Lagarde. Die Coronakrise sei nicht ausgestanden.