Yvonne Sauter, 33, hat die Stuttgarter Ortsgruppe von „Extinction Rebellion“ gegründet. Foto: S. Warrlich

„Extinction Rebellion“ heißt eine neue Umweltinitiative. In England klettern Aktivisten auf Züge, legen den Verkehr lahm und werden massenhaft festgenommen. Nun hat sich in Stuttgart eine Ortsgruppe gegründet.

Stuttgart - Treffen im „Weltcafé“ am Stuttgarter Charlottenplatz, an einem Montag im September: Yvonne Sauter, 33 Jahre, derzeit Hartz-IV-Empfängerin, legt einen Sticker auf den Tisch. „Wir sind am Arsch“, steht darauf. Der Hintergrund ist knallpink. In allen vier Ecken prangt ein Totenkopf. „Was ich an der Initiative mag, sind die klaren Botschaften“, sagt Sauter. Der Sticker wirbt für die Umweltgruppe „Extinction Rebellion“. Sauter hat vergangenes Jahr ihr Studium auf Eis gelegt, um Vollzeit-Aktivistin zu werden. In Stuttgart hat sie eine Ortsgruppe von „Extinction Rebellion“ gegründet.

Auf Deutsch übersetzt bedeutet der Name so viel wie „Rebellion gegen das Aussterben“. Die Initiative entstand vor rund einem Jahr in England. Dort bekennen sich mittlerweile Zehntausende zu der Gruppe. Seit einigen Monaten machen die Aktivisten mit zivilem Ungehorsam auf sich aufmerksam. Sie besetzen Brücken, klettern auf Züge oder blockieren Straßenkreuzungen. Im April wurden bei einer Reihe von Protestaktionen in London innerhalb weniger Tage mehr als 1000 Klimaschützer festgenommen.

Ziviler Ungehorsam als wichtigstes Mittel

Ziviler Ungehorsam ist das Herzstück der Strategie von „Extinction Rebellion“. Damit unterscheidet sich die Gruppe von den „Fridays for Future“-Aktivisten, die bislang größtenteils auf Demonstrationen setzen. Veränderungen auf legalem politischen Wege zu erreichen braucht Zeit – zu viel Zeit, findet Yvonne Sauter. Die junge Frau ist überzeugt, dass die Menschheit diese Zeit nicht mehr hat. Deshalb sieht Sauter zivilen Ungehorsam auch in Stuttgart als legitimes Mittel. Der Gründer der Bewegung, Roger Hallam, drückte es jüngst im Gespräch mit der Wochenzeitung „Die Zeit“ so aus: „Greta ist toll. Aber der 20. September wird nichts ändern.“ An dem Tag ruft „Fridays for Future“ zu einem weltweiten Klimastreik auf. Hallam hält seine Methode für effektiver. „Wenn die Leute sehen, dass normale Menschen für ihr Anliegen verhaftet werden, dass sie ins Gefängnis gehen oder von der Polizei verprügelt werden, dann entsteht eine enorme Sympathie für die Sache, egal was für eine Sache das ist.“

Auf der Webseite des deutschen Ablegers von „Extinction Rebellion“ klingt es weniger drastisch. „Komm, wir retten jetzt die Welt. Du kommst gerade richtig. Es ist für jeden was dabei, von Kunst bis Kekse und Straßen besetzen“, heißt es dort neben farbenfrohen Fotos von Aktivisten, die lächelnd auf der Straße liegen. Bei Aktionen werde vorher verabredet, wer sich verhaften lässt und wer das lieber nicht möchte. In der Regel sei es möglich, dies dann einzuhalten. Und wer doch wider seinen Willen festgenommen wird: Die „Regenerative Culture AG“ wird „mit allem was in ihrer Macht steht darum sorgen, dass die Erfahrung so erträglich und moralisch erfüllend wie möglich ist“, heißt es auf der Internetseite. Aktivisten brauchen Kraft. Deshalb müssen sie auf ihr eigenes Wohlbefinden achtgeben. Dieser Gedanke spielt bei „Extinction Rebellion“ eine wichtige Rolle.

Kreisverkehr und Kreuzung in Stuttgart blockiert

Die Initiative wächst – auch in Deutschland. Ulm, Tübingen oder Freiburg sind nur drei von mehr als 60 aktiven Ortsgruppen, welche der deutsche Ableger auflistet. Im Juni ketteten sich Aktivisten mit ihren Hälsen an den Zaun des Kanzleramts in Berlin und forderten die Regierung auf, den Klimanotstand auszurufen. In Konstanz gab es jüngst Ärger um eine geplante Kundgebung der Gruppe auf einem Parkplatz.

In Stuttgart gab es bislang nur kleinere Aktionen. In Bad Cannstatt haben Sauter und ihre Mitstreiter nach eigenen Angaben kürzlich mit so vielen Radfahrern einen Kreisverkehr geflutet, dass dieser für Autos praktisch nicht mehr befahrbar war. Am Charlottenplatz hat die Gruppe laut Sauter eine Straße blockiert. Autofahrer verpassten eine grüne Ampelphase.

Was bringt ziviler Ungehorsam?

Durch „Extinction Rebellion“ kämen viele Menschen mit zivilem Ungehorsam in Kontakt, die damit bislang nichts zu tun hatten, beobachtet der Wissenschaftler Simon Teune. Er erforscht soziale Bewegungen an der Technischen Universität Berlin. Teune zufolge hat ziviler Ungehorsam vor allem zum Ziel, die Dringlichkeit eines Anliegens und eine tiefe moralische Überzeugung der Aktivisten deutlich zu machen. „Das bringt die Menschen zum Nachdenken, langfristig verändern sich womöglich Mehrheiten“, sagt Teune.

Als eigenständige neue Bewegung sieht Teune „Extinction Rebellion“ aber nicht, sondern als neue Gruppierung innerhalb der Klimabewegung. Die Grenzen zwischen „Extinction Rebellion“ und den „Fridays for Future“ seien fließend.

Studium, Beruf – alles auf Eis gelegt

Yvonne Sauter ist dafür ein gutes Beispiel. Sie engagiert sich auch bei „Fridays for Future“. Ebenso gilt die Verbundenheit umgekehrt: „Wir erklären uns mit ‚Extinction Rebellion’ solidarisch“, sagt Kolja Schultheiß von „Fridays for Future“ Stuttgart. Aber man habe sich ein anderes Aktionslevel gesetzt. „Unser Level des zivilen Ungehorsams ist der Schulstreik“, sagt Schultheiß. Privat könne es aber durchaus vorkommen, dass Menschen, die sich bei „Fridays for Future“ engagieren, auch an Aktionen von Sauters Truppe teilnehmen.

Yvone Sauter selbst beschäftigt der Klimawandel so sehr, dass sie ihr Leben komplett geändert hat. Ihren Beruf als Europasekretärin hat sie niedergelegt und auch das Masterstudium, das sie später begonnen hatte, vorerst gestoppt. Sauter glaubt, dass das gegenwärtige Wirtschaftssystem nicht tragfähig ist, wenn die Klimakatastrophe noch verhindert werden soll. Was derzeit als „anerkannter Beitrag zur Gesellschaft“ zähle – ein Job etwa, Steuern zahlen – „führt nirgendwohin“, sagt Sauter, „weder mich selbst noch die Gesellschaft“.

Was fordert „Extinction Rebellion“?

Im Weltcafé am Charlottenplatz zählt die junge Frau die drei zentralen Forderungen von „Extinction Rebellion“ auf. Erstens: „Politik und Medien sollen die Wahrheit über die ökologische Krise sagen.“ Das würde für Sauter etwa bedeuten, dass zum Thema „Hitzesommer“ keine Bilder von fröhlich quietschenden Kindern mehr in der Zeitung abgebildet werden. Positive Bilder verzerrten die Wahrnehmung. Statt „Klimawandel“ sollten die Medien das Wort „Klimakatastrophe“ benutzen. „Alles andere wirkt wie Vertuschung“, sagt Sauter.

Auch einige Wissenschaftler fordern inzwischen eine drastischere Wortwahl. In der Forschung gibt es einen breiten Konsens, dass sich die Erde auf keinen Fall um mehr als eineinhalb Grad Celsius gegenüber dem vorindustriellen Zeitalter erwärmen darf. Ansonsten wird das Klimasystem irreparablen Schaden nehmen. Für die Menschheit würde dies kaum tragbare Folgen mit sich bringen – extreme Wetterlagen, ansteigende Meeresspiegel, Dürren. Die meisten Wissenschaftler sind sich auch einig, dass angesichts der aktuellen Entwicklung der globalen Treibhausgasemissionen nur eine kleine Chance besteht, das 1,5-Grad-Ziel noch zu halten.

Keine Treibhausgase mehr – und zwar schon in fünf Jahren

„Extinction Rebellion“ fordert: Bis 2025 müsse der Ausstoß von Treibhausgasen auf Null gesenkt werden. Als dritte und letzte Forderung sieht die Bewegung vor, dass Bürgerversammlungen eingerichtet werden, die der Politik Empfehlungen geben. Bürger sollen nach dem Zufallsprinzip ausgelost werden und in Gremien zusammenkommen, um von Wissenschaftlern zu lernen, um sich zu beraten und anschließend Leitlinien abzugeben.

„Sich bewusst zu machen, wie es um die Erde steht, kann einen sehr traurig machen“, sagt Yvonne Sauter. Deshalb spricht die Stuttgarter „Extinction Rebellion“-Gruppe bei ihren Treffen auch über „Ökotrauer“, wie Sauter sagt. Man mache Übungen zu Achtsamkeit und Dankbarkeit. Wer will, kann zu diesen Themen auch kurze Online-Fortbildungen machen, die über die englische Website von „Extinction Rebellion“ angeboten werden. Zudem ist der Gruppe der Umgang miteinander sehr wichtig. Die Aktivisten legen Wert auf gewaltfreie Sprache. In Gruppendiskussionen dürften Junge vor Alten sprechen, Frauen vor Männern, um hierarchische Muster aufzubrechen. So beschreibt Sauter die Treffen des Organisationsteams, das mittlerweile zwischen 15 und 20 Personen zähle. Auf dem Email-Verteiler der Stuttgarter Ortsgruppe stehen nach Sauters Angaben derzeit rund 300 Namen. Aus Gerlingen und Pforzheim haben sich jüngst Menschen bei Sauter gemeldet, die auch eine Ortsgruppe gründen wollen.

Der Plan für die nächsten Wochen

„Am 7. Oktober beginnt die nächste Rebellionswelle“, sagt Sauter. In Hauptstädten weltweit plant „Extinction Rebellion“ Aktionen. Die Stuttgarter Ortsgruppe will für die Aktionswoche laut Sauter nach Berlin gehen. Im Südwesten stehen schon vorher Aktionen an. Am 20. September – nach dem Klimastreik, zu dem „Fridays for Future“ aufruft – sind „diverse Blockaden“ geplant, wie Sauter sagt. Unter unter anderem soll eine Brücke im Raum Stuttgart blockiert werden. Welche es sein wird, will Sauter noch nicht verraten.