Manche Umweltschützer monieren es schon länger. Nun hat auch der Chef der Klimaschutz- und Energieagentur kritische Worte gefunden. Volker Kienzlen hält mehr Stromproduktion mit Fotovoltaik und einen forcierten Ausbau der Wärmeversorgung für geboten.
Stuttgart - Während sich die Hiobsbotschaften über das schmelzende Arktiseis überschlagen und die Furcht vor dem Tempo des globalen Klimawandels wächst, mehren sich in Stuttgart die Mahnungen, dass die Landeshauptstadt beim Klimaschutz konsequenter sein sollte. Das Klima- und Umweltbündnis Stuttgart (KUS) und der Verein Kommunale Stadtwerke monieren es schon lang. Nun hat auch der Chef der Klimaschutz- und Energieagentur Baden-Württemberg (KEA), Volker Kienzlen, Klartext geredet zur Frage, wo Stuttgart unter den Kommunen im Land steht.
Bei den Wärmenetzen, also der Versorgung von Betrieben und Haushalten mit Fern- und Nahwärme, sei der aktuelle Stand noch sehr mager, wiewohl Stuttgart bekanntlich entlang des Neckars und in Teilen der Innenstadt mit den Fernwärmeleitungen der EnBW gut aufgestellt wäre. Der Schatz sei noch zu heben, der Ausbau der Wärmeversorgung verlaufe eher stockend, sagte Kienzlen. Die Decarbonisierung der Wärmeerzeugung, also die Umstellung auf kohlendioxid-neutrale Energieträger, und der Ausbau der Wärmenetze seien die zentrale Aufgabe auf dem Weg zur Klimaneutralität, sagte Kienzlen den Mitgliedern des städtischen Klima- und Umweltausschusses. Dabei sprach er auch den juristischen Streit um die Verfügung über das Fernwärmenetz zwischen der Stadt und der EnBW an: „Der Ausbau ist wichtiger als der Streit, wem das Wärmenetz gehört.“
Andere Kommunen produzieren viel mehr Ökostrom
Einen Spiegel hielt Kienzlen der Stadt auch vor, was die erneuerbaren Energien angeht. Wenn er nach Stuttgart reinfahre, sehe er vergleichsweise wenig Fotovoltaik-Anlagen zur Ökostromgewinnung auf den Dächern, sagte Kienzlen, der vor seinem Wechsel zur KEA in Karlsruhe der Energieexperte im Amt für Umweltschutz der Stadt Stuttgart war. Die Ökostromerzeugung nehme zwar zu, aber „nicht wie notwendig“ – und sie beruhe noch stark auf Wasserkraft, weniger auf Fotovoltaik. Im Land sei die Stromerzeugung mit erneuerbaren Energien mancherorts bis zu 50 Mal so hoch.
Einige Stadträte wandten zwar ein, in den oberschwäbischen Kommunen und in Schwäbisch Hall gebe es eben mehr Platz für Fotovoltaikanlagen und weniger Mieter in den Gebäuden, daher sei ein Vergleich pro Einwohner irreführend. Ja, meinte auch Kienzlen, dort herrschten andere Bedingungen, doch Mengen wie in Freiburg und Ulm „wären für Stuttgart ein realistisches Ziel“. Ulm kam 2018 – das sind die letzten Vergleichszahlen – auf 1417 Kilowattstunden pro Einwohner und Jahr, Mannheim auf 1232, Freiburg auf 370 – und Stuttgart auf 105. Die Anreize für Investitionen sind nach Kienzlens Einschätzung schon „stark“. Er empfahl daher mehr Werbung über Verbände.
Stuttgart ist bei Ladepunkten und Energiemanagement vorne
„Bei den Ladepunkten für Elektromobile und beim Energiemanagement ist Stuttgart Spitze“, sagte Kienzlen. Aber Sorge bereitet ihm auch, dass von den Fördermitteln der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) für energieeffizientes Bauen und Sanieren wenig nach Stuttgart fließe. Ulm sei als Spitzenreiter der Stadtkreise in den Jahren 2016 bis 2018 im Mittel auf 405 Euro pro Einwohner gekommen, Stuttgart wie Pforzheim auf 180 Euro. „Etwas 120 Millionen Euro im Jahr fließen an Stuttgart vorbei“, sagte Kienzlen. Könnte die Stadt diese Gelder einwerben, wäre das „konkrete Wirtschaftsförderung“.
Das dürfte Folgen haben, wenn die Stadträte die im Herbst die Stadthaushalte 2022 und 2023 beraten. Zumal auch aus anderen Gründen schon auf der Hand lag, dass das Energieberatungszentrum zu dünn besetzt ist. Einige Stadträte signalisierten schon, weitere Stellen zu schaffen.
Energieberatung wird wohl verstärkt
„Wir müssen mehr Fördermittel abgreifen“, sagte Ioannis Sakkaros (CDU), der sich zudem schockiert zeigte von Stuttgarts Stand bei der Fotovoltaik. „Die Botschaft, dass wir mehr erneuerbare Energien brauchen, ist angekommen“, sagte Benjamin Boy (Grüne), das Thema Wärmenetze im Siedlungsbestand wolle man ohnehin „voll angehen“. Dennoch ist fraglich, ob alle die nötige Konsequenz entwickeln werden, um Stuttgarts Klimaneutralität schnell genug herbeizuführen. Einen Tag, nachdem die SPD die Prüfung der Stuttgarter Wälder auf Standorte für Windkraftanlagen angeregt hatte, sprach Armin Serwani (FDP) die Hoffnung aus, dass es in Stuttgart keine neuen Anlagen geben werde, nachdem vor sechs Jahren derartige Pläne gescheitert waren. „Es ist ja schon okay zu sagen, ich will die Windkraft hier nicht“, sagte Kienzlen dazu, „dann muss ich aber auch sagen, was ich will.“ Er empfahl, dass auch Stuttgart noch einmal nach einem Standort schaue, vielleicht auf dem Grünen Heiner in Weilimdorf nachrüstet, wenngleich der Wind in Stuttgart nicht wehe wie auf der Schwäbischen Alb. Um die Energie- und Klimakrise zu meistern, müsse man alles nutzen, was in Frage komme.