Lebt den Einsatz, den er von seinen Spielern fordert, an der Seitenlinie vor: Union-Coach Jens Keller Foto: AFP

Trainer Jens Keller spricht vor dem Duell mit dem VfB Stuttgart über das Verhältnis zu seinem Ex-Club und den besonderen Reiz von Union Berlin. Er empfiehlt seinem Ex-Club, die Reise zum Auswärtsspiel nach Berlin nicht als Betriebsausflug anzugehen.

Herr Keller, am Sonntag kommt es zum Spitzenspiel der zweiten Liga zwischen Union Berlin und Ihrem Ex-Club VfB Stuttgart– mit Ihnen auf der Trainerbank der Berliner. Wir nehmen an: eine Konstellation, die Sie sich noch vor kurzer Zeit nicht erträumt hätten.
Das stimmt. Dass der VfB in der zweiten Liga landet, damit konnte man nun wirklich nicht rechnen. Genausowenig, dass ich hier irgendwann mal Trainer sein würde. Aber umso schöner, dass es nun zum Duell kommt – und dass man auch noch von einem Spitzenspiel sprechen kann.
Wie sind Sie eigentlich in Berlin gelandet?
Indem ich irgendwann einen Anruf bekommen, ich mich mit dem Verein intensiv beschäftigt habe und wir schließlich gute Gespräche geführt haben. Dann war relativ schnell klar, dass der Job genau das richtige für mich ist.
Davor waren Sie anderthalb Jahre raus aus dem Geschäft. Was macht man da eigentlich so, als Trainer im Wartestand – außer auf besagten nächsten Anruf warten?
Nach meiner Zeit auf Schalke habe ich meine Auszeit zunächst einmal genossen und gar nichts gemacht. Der Job dort war ja nicht so einfach (lacht). Dann habe ich mich verschiedentlich fortgebildet, unter anderem habe ich an der Uni St. Gallen ein Sportmanagement-Zertifikat erworben. Schließlich nutzt man die Zeit, um bei anderen Vereinen zu hospitieren und sich viele Fußballspiele anzuschauen. So sah auch mein Alltag aus.
Und als Union Berlin anrief, mussten Sie nicht lange überlegen.
Es ist nicht so, dass man am Telefon sofort „Ja, mach’ ich“, sagt. Man schaut sich das erst einmal in Ruhe an. Aber lange überlegen musste ich bei diesem Angebot nicht.
Vielen gilt ja allein die Hauptstadt als Grund, dort einen Job anzunehmen.
Das hat mich überhaupt nicht interessiert. Und ob Sie es glauben oder nicht: Sehr viel von Berlin habe ich bisher gar nicht gesehen. Für mich ist es entscheidend, wie die Strukturen im Verein aufgebaut sind und was man gemeinsam erreichen kann. Ich denke, da ist bei Union einiges möglich. Und um auf Ihre Frage zurückzukommen: Natürlich ist Berlin als Stadt nicht das schlechteste Pflaster.
Als Schwabe haben Sie keine Probleme? Keine blöden Sprüche?
Nein, überhaupt nicht. Außerdem bin ich ja auch schon eine ganze Weile weg aus Stuttgart.
Beschreiben Sie doch mal den besonderen Charme von Union Berlin.
Jeder einzelne Mitarbeiter lebt hier für den Verein und ist mit viel Herzblut bei der Sache. Das ist weit mehr als ein reines Arbeitsverhältnis. Dazu kommen die Fans, die in unserem Stadion an der Alten Försterei für eine einmalige Atmosphäre sorgen. Der ganze Club hat in den vergangenen Jahren eine gute Entwicklung genommen, ist auf gesunde Art und Weise gewachsen – auch was die Infrastruktur angeht.
Gibt es an der Alten Försterei wirklich nie Pfiffe gegen die eigene Mannschaft?
Nein, das ist für unsere Fans tabu und gibt es in dieser Form sicher nicht so oft im Profifußball.
Als ehemaliger Trainer von Schalke und dem VfB muss man sich daran sicher erst gewöhnen.
Ich gewöhne mich gerne daran. Am liebsten wäre es mir natürlich, es ginge so weiter wie bisher: Dass wir den Fans erst gar keinen Anlass zum Pfeifen geben.
Am Sonntag steht das Spiel gegen Ihren Ex-Club an. Freuen Sie sich?
Spiele gegen den VfB sind jetzt nichts besonderes mehr für mich. Weil meine Tätigkeit dort schon sechs Jahre zurückliegt und von den handelnden Personen von damals auch nicht mehr so viele dabei sind. Ich freue mich insofern, als ich ein tolles Spiel gegen eine starke Mannschaft erwarte.
Auf was muss sich der VfB an der Alten Försterei einstellen?
Dass wir Vollgas geben werden und zu Hause unser Spiel gewinnen wollen. Abwarten ist nicht – es wird von der ersten Minute an zur Sache gehen.
Mit der Überfalltaktik gegen den Favoriten . . .
. . . wir sind eine aktive Mannschaft, die das Geschehen immer direkt beeinflussen möchte. Eine andere Taktik gibt es bei unseren Heimspielen nicht. Der VfB muss einen guten Tag haben, wenn er bei uns gewinnen möchte.
Hat Sie die Entwicklung der vergangenen Monate in Stuttgart überrascht?
Natürlich. Von seiner Qualität her hätte der VfB niemals absteigen dürfen. Aber es zeigt, wie wichtig es ist, dass die Automatismen in Mannschaft und Verein funktionieren. Das war in Stuttgart offenbar über längere Zeit nicht der Fall – insofern kam der Abstieg nicht von ungefähr.
Jetzt gilt der VfB vielen Experten als erster Aufstiegsanwärter – aber auch Union Berlin wird häufig genannt. Wie schätzen Sie die Chancen ein?
Bei uns muss sehr viel zusammenpassen, damit wir ein Wörtchen mitreden können. Rein vom Kader her sind Stuttgart und Hannover die Top-Teams, dahinter gesellen sich fünf bis sechs Vereine auf ähnlichem Niveau , die um den Aufstieg mitspielen. Dazu wollen wir auch gehören.
Will Union Berlin tatsächlich aufsteigen? Es heißt, manche Fans fürchten den Verlust der einzigartigen Atmosphäre in Köpenick, wenn Union Bundesliga spielt.
Grundsätzlich gilt: ein Aufstieg ist kein Muss für uns. Aber wenn sich sportlich die Möglichkeit bietet, wären wir doch besengt, sie nicht zu nutzen. Ich denke, das sehen auch unsere Fans so. Ich persönlich glaube nicht, dass vom Charme und der Tradition dieses Kultclubs in der Bundesliga etwas verloren ginge.
Ist Union eine Art FC St. Pauli von Berlin – mit Ihnen als schwäbischem Schleifer?
Oberflächlich betrachtet mag es den einen oder anderen Zusammenhang zwischen den beiden Clubs geben. Aber ich denke, dass jeder seine eigene DNA hat. Und was den Schleifer angeht: Damit kann ich überhaupt nichts anfangen. Ich habe aus meiner Zeit bei Schalke viel mitgenommen. Ich sehe mich als kommunikativen Trainertyp und versuche meiner Mannschaft gewisse menschliche und fußballerischen Werte zu vermitteln. Ein Schleifer bin ich bestimmt nicht.