Vor dem Kellerduell des VfB Stuttgart bei Hertha BSC äußert sich der 69-Jährige im Interview zu den Fehlentwicklungen bei seinen früheren Clubs – aber nicht nur da zeigt er klare Kante.
Felix Magath hat sich vor dem Kellerduell der Fußball-Bundesliga an diesem Samstag (15.30 Uhr) zwischen Hertha BSC und dem VfB Stuttgart (Liveticker) Zeit genommen, um auf seine Ex-Vereine zu blicken. Doch nicht nur hier zeigt er klare Kante.
Herr Magath, bereits vor einem Jahr bestritten der VfB und Hertha BSC in Berlin ein Kellerduell. Wundert es Sie, dass zwischen den Teams ein solches Schlüsselspiel nun wieder ansteht?
Ich bin schon so lange im Fußballgeschäft tätig, dass mich das natürlich nicht wundert.
Gibt es aus ihrer Sicht Gründe für diese erneute Fehlentwicklungen?
Ich bin jetzt nicht mehr so nahe dran, aber ja – beides sind Traditionsvereine, und sowohl der VfB als auch die Hertha haben in den vergangenen Jahren an sportlicher Leistungskraft verloren. Das liegt meiner Meinung nach daran, dass die wirklichen Probleme, die hinter dieser Entwicklung stehen, ebenso wenig angegangen werden wie die strukturellen Probleme. Schauen Sie sich den Hamburger SV an, auch ein Traditionsclub. Er steckte vier Jahre lang im Abstiegskampf der Bundesliga, ehe es 2018 in die zweite Liga ging. Zuvor hatte sich nie etwas verbessert – und seither offenbar auch nicht. Einen ähnlichen Prozess erkenne ich bei der Hertha und dem VfB.
Welche Probleme meinen Sie konkret?
Ganz klar, der Fokus auf den Sport ist verloren gegangen. In den vergangenen Jahrzehnten ist immer mehr Geld in die Vereine geflossen. Das bedeutet, dass immer mehr Menschen am Fußball verdienen und ihre Interessen vertreten. Da schauen viele Beteiligte nur auf ihre eigene Position und nicht auf das Wohl des Clubs. Vor allem die Traditionsvereine sind mit ihren großen Personalapparaten strukturell überladen. Die Vereine sollten erst ihre sportliche Substanz stärken und sich dann den anderen Themen widmen – und nicht umgekehrt.
Also Fußball vor Vermarktung oder Stadionumbau?
Ja. Das Paradebeispiel ist doch der SC Freiburg. Seit 30 Jahren steht dort der Sport im Vordergrund. Alles andere kommt danach. Nur: dieses Vorbild interessiert die breite Öffentlichkeit nicht so stark und auch die anderen Vereine orientieren sich an dieser Arbeits- und Denkweise nicht so sehr. Ich gehe sogar so weit, dass ich sage: vor allem die Traditionsvereine müssen erst einmal wieder zum Fußball zurückkehren. Sie haben sich von ihrem eigentlichen Kern entfernt.
Erinnerungen an das Duell mit Pellegrino Matarazzo
Dann lassen Sie uns zum Fußball zurückkehren: Was gab vor einem Jahr den Ausschlag dafür, dass die Hertha mit 2:0 gegen den VfB gewann?
Der VfB war wie jetzt auch spielerisch klar die bessere Mannschaft. Die Hertha hatte in der vergangenen Saison kaum Offensivkraft. Das zu verbessern, war in den acht Spielen, die ich noch Zeit hatte, nicht zu leisten. Deshalb haben wir das über Einsatz wettgemacht und auf Standards gesetzt.
Ist das eine Parallele zur aktuellen Situation?
Ja. Die Stuttgarter haben und hatten sicher viele gute Einzelspieler, aber zusammen hat es eben nicht funktioniert. Das läuft nun wieder ähnlich.
Würden Sie dem Schluss widersprechen, dass der Trainerfuchs Felix Magath den in der Bundesliga recht unerfahrenen Pellegrino Matarazzo im April 2022 ausgecoacht hat?
Das möchte ich nicht beurteilen. Was mich jedoch grundsätzlich wundert, ist, dass sich die Ansicht durchgesetzt hat, dass die Taktik der allein entscheidende Faktor im Fußball ist. Über diese Brücke gehe ich nicht. Die Taktik ist sicher ein wichtiger Teil, aber sie ist nicht bestimmend.
Was ist entscheidend für gute Trainerarbeit?
Es ist ein Gesamtpaket, wozu auch eine klare Mannschaftsführung gehört. Ich werde gerne darauf reduziert, dass ich mit Medizinbällen trainieren lasse und fast nur auf die konditionellen Aspekte Wert lege. Das stimmt nicht. Für mich ist Fitness aber die Voraussetzung dafür, um erfolgreich arbeiten zu können. Ich bin überzeugt davon, dass die Taktik und die sogenannten modernen Trainer, die damit verbunden werden, zu hoch bewertet werden. Sie können in der Bundesliga auch heute noch ohne eine Überhöhung der Taktik erfolgreich spielen lassen.
Bruno Labbadia ist ebenfalls ein Trainertyp, der großen Wert auf Fitness legt. Beim VfB musste er jedoch nach wenigen Monaten wieder gehen.
Ja – und ohne seine Trainingsarbeit zu kennen, bin ich überzeugt davon, dass seine Vorbereitung im Winter dazu beigetragen hat, dass der VfB jetzt wieder körperlich dazu in der Lage, Spiele in der Schlussphase zu gewinnen. Der VfB profitiert also von seiner Arbeit. Ansonsten möchte ich anfügen, dass es Bruno Labbadia sehr schwer hatte in Stuttgart, weil er schon kritisiert wurde, als er noch gar nicht da war. Das verschafft den Spielern aus meiner Erfahrung heraus nur ein Alibi. Sie brauchen im Abstiegskampf jedoch einen großen Zusammenhalt im Team und im Verein.
Kritik an den Nachwuchsleistungszentren
Worauf wird es am Samstag weiter ankommen?
Das Engagement und die Leidenschaft werden entscheidend sein. Fußball wird immer noch von Menschen gespielt und nicht von Computerfiguren. Die Physis ist die Grundlage, aber es geht auch um mentale Stärke und vor allem das spielerische Momentum. Nehmen wir zum Beispiel Kai Havertz in der Nationalmannschaft. Für mich ist er ein Riesentalent. Er wird jedoch meistens in ein taktisches System gezwängt. Das schränkt ihn in seiner Spielfreude ein. Er ist immer noch gut, keine Frage – aber er könnte noch viel besser sein, wenn er frei aufspielen dürfte.
Fehlen Ihnen solche Spielertypen im deutschen Fußball?
Verzeihen Sie, aber andersherum gefragt: Wem können solche Spieler denn nicht fehlen? Solche Typen fehlen dem Fußball insgesamt. Ich bin nur einer derjenigen, die es aussprechen: Wir brauchen solche Spieler mit individuellen Fähigkeiten. Es wäre gut diese wieder auszubilden, zu fördern und nicht in taktische Korsetts zu zwängen. Da sollte man in den Nachwuchsleistungszentren ansetzen.
Dort werden doch sehr viele Spieler für den Profibereich entwickelt.
Da bin ich kritischer. Aus meiner Sicht werden dort sehr viele junge Spieler taktisch ausgebildet und es werden viele Trainer ausgebildet. So rum geht mittlerweile die Geschichte. Nicht das Fußballerische steht bei der Talententwicklung im Vordergrund, sondern viele Nachwuchstrainer schauen, dass sie selbst vorwärtskommen, um möglichst auf die große Bühne zu gelangen.
Pal Dardai hat vor drei Wochen den Trainerjob von Sandro Schwarz bei Hertha übernommen. Passt er als Urgestein?
Da muss ich etwas ausholen, um diese Frage zu beantworten. Ich glaube, die Hertha leidet immer noch darunter, dass verschiedene Verantwortliche mit unterschiedlichen Ansätzen aus ihr einen Weltstadtclub formen wollten. Denn die Fans wollten das gar nicht. Somit sind zwei Welten aufeinandergeprallt – mit dem Ergebnis, dass sich im Club personell ein großer Wasserkopf gebildet, aber kein Erfolg eingestellt hat. In Kay Bernstein wurde zuletzt ein ehemaliger Ultrafan zum Präsidenten gewählt, der wieder einen anderen Weg eingeschlagen hat. Zu diesem hat anscheinend auch Fredi Bobic als Sportchef nicht mehr gepasst. Wenn schon so eine grundsätzliche Änderung der Ausrichtung erfolgt, dann wäre es aus meiner Sicht konsequenter gewesen, Ende Januar auch gleich auf Pal Dardai zu setzen. Den Zeitpunkt des Trainerwechsels sehe ich kritisch.
Weil Pal Dardai nur wenige Spiele bleiben, um die Berliner zu retten?
Ja. Die Hertha-Situation ist für mich ein gutes Beispiel dafür, wie man sich, wie schon in den ganzen letzten Jahren, auch diese Saison schöngeredet hat. Erst als Tabellenletzter hat man reagiert.
Wie nehmen Sie Sebastian Hoeneß beim VfB wahr?
Seine Arbeit kann ich nicht beurteilen. Das will ich nach wenigen Wochen auch nicht. Das gilt genauso für Pal Dardai und andere Trainerkollegen. Die Fehler in Stuttgart und Berlin wurden lange vor der Verpflichtung dieser Trainer gemacht. Was ich sagen kann: Das Timing des Trainerwechsels beim VfB war besser. Die Mannschaft hatte im DFB-Pokal beim Zweitligisten in Nürnberg sofort die Chance, einen Sieg einzufahren. Das hilft einem neuen Trainer enorm.
Seither hat der VfB kein Ligaspiel mehr verloren.
Ja. Auch, weil der VfB geschlossener wirkt, seit Sebastian Hoeneß da ist. Diese Einigkeit überträgt sich und die Mannschaft ist wieder in der Lage, erfolgreicher Fußball zu spielen. Das tut sie jetzt, und ich glaube, dass der VfB in der Liga bleibt.