VfB-Stürmer Werner: Im Korsett des Systems eingezwängt? Foto: dpa

In den 70er Jahren zählte der Verteidiger zu einer der besten Mannschaften, die die VfB Stuttgart bis heute hat. Nach dem Rauswurf von Trainer Alexander Zorniger übt Bernd Martin System-Kritik. „Der VfB hat keine Spielphilosophie. Das sind Worthülsen. So können sich Talente nicht entfalten“, sagt der frühere Klasse-Spieler.

Stuttgart -

Herr Martin, Sie trugen früher selbst das VfB-Trikot, sind dem Verein immer treu geblieben. Wo liegt eigentlich Ihre Schmerzgrenze?
(Lacht) Ich bin mit 17 Jahren zum VfB gekommen, da hält man einiges aus. Aber ehrlich gesagt: Inzwischen ist die Schmerzgrenze erreicht, wenn nicht sogar überschritten.
Was läuft schief in diesem Verein?
Die Interna will und kann ich nicht beurteilen. Der Blick von außen sagt mir aber: Dieser Verein lebt im Grunde nur noch von der Tradition, aber nicht mehr mit ihr.
Was bedeutet das konkret?
Jeder sagt: Der VfB hat doch eine prima Jugendabteilung. Aber das ist der Blick in die Vergangenheit, die Gegenwart sieht düster aus.
Was läuft in Ihren Augen schief?
Der VfB rekrutiert aus der Jugend immer weniger Stammspieler für die Profis. Das war und ist aber sein eigentliches Kapital.
Weil die Gomez und Khediras irgendwann für viel Geld zu größeren Clubs wechseln?
Das ist die eine Seite, die andere ist: Wenn es an Talenten fehlt, wird eben teuer eingekauft. Das Geld war ja in den Jahren nach der Meisterschaft 2007 offenbar im Überfluss vorhanden.
Ganz ohne Transfers wird es aber nicht gehen.
Das sagt ja auch niemand. Die Balance muss aber stimmen. Und beim VfB stimmt sie schon lange nicht mehr. Da wird für teures Geld eingekauft, ein paar Berater und mittelmäßige Spieler stecken das Geld in die Tasche, und die Substanz beim VfB wird immer schwächer.
Was empfehlen Sie?
Ganz einfach: Der Verein muss weitaus mehr Aufmerksamkeit, Energie und Geld in die Entwicklung seines Nachwuchses stecken. Es ist doch die wichtigste Aufgabe der Jugendabteilung, Spieler so auszubilden, dass sie irgendwann ganz oben ankommen.
Timo Werner hat es geschafft.
Schön, dass Sie ihn ansprechen. Timo ist ein Supertalent. Aber was macht der VfB? Er holt einen Trainer, der eine Spielidee vertritt, die dieses Talent vernichtet.
Weil der Spieler in ein festes Schema gepresst wird?
Sie sagen es. Ein junger Spieler seiner Qualität muss doch nach allen Regeln der Kunst gefordert und gefördert werden. Aber im System von Alexander Zorniger musste er in erster Linie den Gegner jagen, Pressing, Gegenpressing. Wenn ich das schon höre.
Wo sehen Sie positive Beispiele?
Nehmen wir mal Marco Reus, Karim Bellarabi oder Franck Ribéry: Das sind Spieler, die ihrer Intuition folgen und wahrscheinlich auch immer gefolgt sind. So entwickelt sich individuelle Klasse, die dann den Unterschied ausmacht.
Wo würden Sie ansetzen?
Es darf nicht sein, dass ein unerfahrener Coach wie Alexander Zorniger kommt und dem Verein ein System überstülpt, das dann in allen Jugendteams gespielt werden muss. Da geht doch jede Kreativität verloren. Beim VfB werden Roboter gezüchtet. Alle sind gleich. Das ist Fußball-Sozialismus.
Woran zeigen sich die Mängel?
Für meine Beobachtung ganz klar an der Technik. Timo Baumgartl schlägt im Sechzehner ein Luftloch. Meine Güte, da hätten wir uns damals zu Tode geschämt. Und dann sein Kopfball kurz vor Schluss im Spiel gegen Augsburg. Das darf ja alles nicht wahr sein.
Der Bursche ist erst 19, noch unerfahren.
Ich mache dem Jungen ja auch gar keinen Vorwurf. Den mach’ ich den Trainern, die ihn nicht entsprechend ausgebildet haben. Die müssen doch schon in jungen Jahren erkennen: Was kann ein Spieler, was nicht? Und dann muss ich gezielt und auch individuell mit ihm arbeiten.
Das System wird zur Zwangsjacke?
Jedenfalls sehe ich die Gefahr.
Sie entstammen einer ganz anderen Spielergeneration.
Ja, sicher. Aber glauben Sie mir: In dieser Hinsicht hat sich der Fußball nicht verändert. Die Spieler brauchen Freiräume, um sich entwickeln zu können, und nicht Trainer, die ihnen jeden Lauf- oder Passweg einzeln vorschreiben. So kann sich doch keine Qualität entfalten.
Was ist zu tun?
Sportvorstand Robin Dutt sollte seine Strategie noch mal gründlich überdenken. Der Verein hat bislang keine brauchbare Philosophie. Für mich sind das alles nur Worthülsen.
Was braucht der VfB auf Sicht?
Er braucht Fachleute, die besten Trainer und Scouts. Man muss endlich denen vertrauen, die Erfahrung im Fußball haben. Eine Bestnote an der Trainerakademie heißt im Fußball doch gar nichts. Da braucht man weniger theoretisches Wissen als praktische Erfahrung, Fingerspitzengefühl, Weitsicht und viel Einfühlungsvermögen.
Was braucht der VfB aktuell?
Einen Trainer, der Ruhe ausstrahlt und in der Lage ist, kraft seines Könnens und seiner Erfahrung der Mannschaft neue Zuversicht zu geben. Lucien Favre wäre die Idealbesetzung.