Martina hat das Leben als Prostituierte hinter sich gelassen. Ihr Ziel: Andere Frauen sollen das auch schaffen. Foto: Reiner

Martina arbeitete im Rotlicht. Ihren Verdienst kassierte ihr Mann. Das Gutachten für die Bundesregierung, wonach fast alle Frauen dort freiwillig arbeiten, macht sie wütend.

Ein Leben ist sperrig und passt selten in Schubladen. Deshalb hielt Martinas Geduld auch nur kurz, als sie versuchte, den Fragebogen auszufüllen, mit dem die Bundesregierung die Wirksamkeit des Prostituiertenschutzgesetzes von 2017 überprüfen ließ. Martina (31) kommt aus Bulgarien und entstammt einer Romafamilie. Sechs Jahre lang arbeitete sie in der Prostitution in Deutschland. Sie erzählt von diesem Leben, das sie hinter sich gelassen hat, mit ihrem wahren Namen. Und sie will auch ihr Gesicht zeigen. Wie eine Lotsin für den Alltag in Deutschland, der manchmal bürokratisch kompliziert ist, will sie jetzt anderen Frauen helfen, es ebenfalls zu schaffen.

 

Verein in Stuttgart hilft, Distanz zur Prostitution zu gewinnen

Martina sitzt in einem Besprechungszimmer in Aalen. Dort auf der Ostalb lebt sie auch. Hier hat Ende 2022 ihr neues Leben begonnen. Lange hat sie dort in einem Schutzhaus gelebt, in dem sie und andere Frauen, die sich aus der Prostitution lösen wollen, zur Ruhe kommen können. Unterstützt wird das Projekt Rosa des Stuttgarter Vereins Esther Ministries noch bis Jahresende unter anderem von der EU. Zwischen drei und vier Frauen betreut Esther Ministries dort gleichzeitig. Einige von ihnen haben in Stuttgart als Prostituierte gearbeitet und fühlen sich auf der Alb sicherer vor dem Leben, das sie hinter sich lassen wollen. Oder sie kommen aus anderen Bundesländern. Martina hat diesen Neustart hinter sich.

Ihre beiden Töchter sind gerade im Kindergarten. Ihren Mann, der auch ihr Zuhälter war, hat sie schon vor einiger Zeit verlassen. Keine Ahnung, wo der jetzt sei. Es sei ihr auch egal. „Mein Leben war dunkel, nie gab es Sonne in meinem Leben.“ Und Liebe habe es auch nicht gegeben. Sechs Jahre habe sie keine Nacht geschlafen, weil sie da immer gearbeitet habe. Und tagsüber habe sie geschlafen. Es habe gerade für einen Kaffee und einen Einkauf im Drogeriemarkt gereicht, dann ging es schon wieder los mit Anschaffen. Von spätnachmittags bis in die frühen Morgenstunden des nächsten Tages. Martina saß in Bremen wie eine Ware im Schaufenster. In verschiedenen Städten in Nordrhein-Westfalen auch. Ein anderer Mann aus ihrer Heimat habe den Kontakt nach Deutschland vermittelt. So finanzierte sie die Drogen- und Spielsucht ihres Mannes.

Anstrengender Fragebogen – und ein Gutschein für den Drogeriemarkt

Die Prostitutionsbranche sieht sich durch die Studie der Bundesregierung bestätigt. (Symbolbild) Foto: dpa

Man muss so ausführlich erzählen, um zu verstehen, warum die Fragen rund um die Freiwilligkeit ihres Tuns sie auch nachträglich noch so unüberhörbar in Rage bringen. In etwas holprigem Deutsch sagt sie: „Das Gesetz in Deutschland ist nicht okay.“ Als Ansporn, an der Umfrage teilzunehmen, bot das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN), das die Evaluierung im Auftrag des damals grünen Bundesfamilienministeriums von 2022 bis 2025 durchführte, einen 50-Euro-Gutschein für einen Einkauf in einem Rossmann-Drogeriemarkt. 52 Fragen mit Unterfragen hat der Bogen in seiner kurzen Version. Ihre Beantwortung, so kündigten die Forschenden an, dauere um die 30 Minuten.

Das Ergebnis dieser Evaluierung war lange erwartet worden, schließt sich daran doch die Frage an, ob die Prostitutionsgesetzgebung in Deutschland überarbeitet werden muss. Jetzt will das Bundesfamilienministerium eine Experten-Kommission berufen, um über die Evaluierung und die daraus notwendigen Konsequenzen zu beraten. Sowohl der Bundesverband sexueller Dienstleistungen, der Lobbyzusammenschluss der Prostitutionsbranche, als auch mehrere Organisationen, die mit Opfern der Prostitution arbeiten, setzen darauf viele Erwartungen. Erstere hoffen auf weitere Lockerungen. Opferorganisationen hoffen auf eine gänzliche Neuregelung der Prostitution. Im besten Fall deren Verbot und die Bestrafung von Freiern und Profiteuren.

Prostituierte sollten 52 Fragen mit Unterpunkten beantworten

Martina wird jetzt laut, redet sich in Rage. Was verdienst du, hast du einen Zuhälter, sie zählt die Fragen der Onlinebefragung auf, an die sie sich erinnern kann. Ankreuzen konnten die Frauen dort von „Trifft zu“ bis „Trifft überhaupt nicht zu“. Bei der Frage nach dem Beweggrund, in der Prostitution zu arbeiten, gingen die Möglichkeiten von „Weil ich mich so selbst verwirklichen wollte“ über „Weil ich meinem Partner einen Gefallen tun wollte“ bis hin zu „Weil mir mit Gewalt gedroht wurde“. Zwischen 17 Möglichkeiten konnten Frauen wie Martina wählen. So war das bei vielen der Fragen. Das muss man 52 Fragen lang durchhalten.

Martina wollte diese Fragen nicht beantworten. Auch weil sie zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr als Prostituierte arbeitete. „Aber ich hatte eine Freundin, die hat gesagt, ich mache das für dich.“ Aber auch die war da schon nicht mehr im Geschäft. Sind die beiden eine Ausnahme? Martina gestikuliert mit ihren Händen, spricht von Manipulation.

Die frühere Prostituierte fragt: „Welche Frau will das?“

„Natürlich sage ich nicht, dass ich einen Zuhälter habe“, sagt sie. Diesen Fragebogen habe auch der Chef im Bordell zusammen mit den Frauen ausfüllen können. Sie kann sich offenbar viel vorstellen. Dass die Mehrheit das – sie meint damit den Verkauf des eigenen Körpers gegen Geld – mache, weil sie es wolle, ist für sie eine glatte Lüge. Welche Frau wolle im Fenster sitzen, ihren Körper anbieten „und 20 Männer gehen mit?“ Welche Frau wolle sich von Junkies und Alkoholikern von der Straße anfassen lassen? „Welche Frau will das?“ In ihrer Aufgebrachtheit gibt sie Einblick in ihr früheres Leben. Sie lacht schallend, wenn das Wort Freiwilligkeit fällt.

Die im Juni veröffentlichte Evaluierung ist zu dem Ergebnis gekommen, dass nur 3,5 Prozent der Prostituierten mit Gewalt zur Aufnahme ihrer Tätigkeit gezwungen wurden. 49,3 Prozent gaben an, sich aus Gründen der Selbstverwirklichung für die Tätigkeit als Prostituierte entschieden zu haben.

Verein aus Stuttgart kritisiert erklärungsbedürftige Rücklaufquote

Veronika Schürle arbeitet bei Esther Ministries und sagt, sie habe den Link zum Fragebogen an zehn Frauen geschickt, die sie betreut oder betreut hat. Nur zwei Frauen haben ihn ausgefüllt. Schürle kritisiert, dass ein Großteil der besonders gefährdeten Prostituierten nicht erreicht worden seien, da sie weder lesen noch schreiben können oder nicht die Ausdauer aufbringen, sich für 30 Minuten auf die komplexe Befragung zu konzentrieren. „Schon die Methodik diskriminiert“, kritisiert Schürle. Mit ihrer Kritik ist sie nicht alleine. So hält beispielsweise das Bundesbündnis Nordisches Modell die Rücklaufquote von 80 Prozent bei einer Sozialbefragung für erklärungsbedürftig. Da die Befragten als schwer zu erreichende Gruppe gelten, „weist das auf die Beeinflussung durch dritte hin“, heißt es in dessen Erklärung.


Liefert die Befragung ein verzerrtes Bild? Haben, wie viele Organisationen bemängeln, viel mehr Kunden und Menschen mitgemacht, die an der Prostitution verdienen oder von ihr profitieren? 42 Prozent der rückläufigen Fragebögen wurden über Prostitutionsplattformen oder -betriebe rekrutiert, bemängelt etwa der Bundesverband Nordisches Modell. Das Kriminologische Forschungsinstitut gibt an, es habe auf Basis der Rückläufe von 2300 Prostituierten, 3400 Kunden, 280 Prostitutionsgewerbetreibenden und 800 Behördenmitarbeitern gearbeitet.

Prostitutionslobby sieht sich durch Studie bestätigt

Lässt sich so die Wirklichkeit der Prostitution beschreiben? „Man muss viel zuhören, um Frauen zu erreichen“, sagt Martina aus eigener Erfahrung, wenn sie sich an die Frau erinnert, die sie nach ihrem Ausstieg war. Gleich mehrere Wegbegleiterinnen hatte sie. Auch Marietta Hageney, die in Aalen für Solwodi arbeitet, gehört zu den Kooperationspartnerinnen von Esther Ministries. Auch sie übt fundamentale Kritik an dem über 600 Seiten starken Bericht und bezeichnet die Evaluierung als „Gefälligkeitsgutachten für die Sexindustrie“. Sie spricht von einem verzerrten Bild, aus dem sich keine politische Entscheidung ableiten lasse. Der Bundesverband sexuelle Dienstleistungen hingegen ist überzeugt, dass durch die Studie „mit vielen Mythen und Märchen durch Wissen und Fakten“ ausgeräumt werde.

Wie schwer der Weg aus einem in ihrem Fall von Gewalt bestimmten Leben ist, erzählt Martina. Sie spricht von Panikattacken und der Angst, aufgespürt zu werden. „Ich habe das Haus 15 Tage lang nicht verlassen“, erinnert sie sich. Jetzt kann sie das. Gleich wird sie in den Bus steigen. Mit ihrem Leben will sie anderen Frauen zeigen, wie es auch anders gehen kann. Veronika Schürle nennt das kultursensible Hilfe, die mit engmaschiger Betreuung und einer Traumatherapie einhergehen müsse.

Martina ist schon einen großen Schritt weiter. Sie macht jetzt Pläne. Wenn ihr Deutsch noch besser ist, will sie eine Ausbildung zur Kinderpflegerin machen und im Kindergarten arbeiten.

Dieser Artikel erschien erstmals im September 2025 und wurde am 13. Oktober aktualisiert.