Der größte Aufreger der bisherigen Bundesligasaison: Timo Werners Schwalbe im Strafraum des FC Schalke. Foto: dpa

Sei es die Schwalbe des Leipzigers Timo Werner oder der Ellenbogencheck gegen Hoffenheims Sandro Wagner – die Unparteiischen lagen nach Auffassung des ehemaligen Fifa-Schiedsrichters Knut Kircher, 47, mit ihren Entscheidungen zuletzt zu häufig daneben.

Stuttgart - Sei es die Schwalbe des Leipzigers Timo Werner oder der ungeahndete Ellenbogencheck des Frankfurters David Abraham gegen Hoffenheims Sandro Wagner – die Unparteiischen in der Fußball-Bundesliga lagen nach Auffassung des ehemaligen Fifa-Schiedsrichters Knut Kircher aus Rottenburg mit ihren Entscheidungen zuletzt zu häufig daneben.

Herr Kircher, sind Sie bei Facebook aktiv?
Nein, wieso?
Roland Eitel, Berater unter anderem von Joachim Löw und Jürgen Klinsmann, hat dort einen Aufruf gestartet: Er wünscht sich Knut Kircher zurück in die Bundesliga.
Schön, dass ich in guter Erinnerung geblieben bin.
Aber?
Meine Zeit ist vorbei. Am Mittwoch war ich beim Spiel des FC Bayern gegen RB Leipzig im Stadion – ich saß auf der Tribüne, mit meinem Sohn und seiner C-Jugend von der SG Hailfingen. Es hat mich nichts hinuntergezogen auf den Platz.
Wie hat Felix Zwayer gepfiffen?
Sehr gut. Vor dem Platzverweis gegen Emil Forsberg hat Assistent Thorsten Schiffner vorbildlich interveniert, die Rote Karte war richtig und vertretbar. Alles super gelaufen.
Das lässt sich nach der Vorrunde nicht über alle Spiele sagen.
Stimmt. Schiedsrichter sind sehr selbstkritisch, deshalb ist mit der bisherigen Saison auch niemand zufrieden. Schiedsrichter sind aber auch Wettkampftypen. Ich bin sicher, dass sie alles tun werden, um eine bessere Rückrunde hinzulegen.
Im Sommer war es das Ziel, weniger Fehler zu machen als in der Saison zuvor, die für die Schiedsrichter auch schon keine gute war.
Das ist leider nicht gelungen. Die Zahl der Fehler ist nicht kleiner geworden – und sicherlich weiterhin zu hoch. Aber es wird gegen diesen Trend angekämpft.
Wie?
Mit vielen Maßnahmen. Zum Beispiel wird das Coaching der Schiedsrichter intensiviert. Und es wird weiter daran gearbeitet, sie in ihrer Persönlichkeit zu stärken.
Sind die Schiedsrichter nach dieser Vorrunde verunsichert?
Dafür sehe ich keine Anzeichen.
In den vergangenen zwei Jahren haben nicht nur Sie, sondern weitere sechs erfahrene Schiedsrichter aufgehört. Ist dieser Umbruch ein Problem?
Nein, denn es fehlt ganz sicher nicht an der grundsätzlichen Qualität. Aber klar ist auch: Man muss jungen Schiedsrichtern Zeit geben, um in der Bundesliga anzukommen und zur Persönlichkeit zu reifen. Das war in der Vergangenheit doch auch so – ein Merk, ein Krug oder ein Fandel waren auch nicht einfach schnell mal zu ersetzen.
Welchen Anteil haben junge Schiedsrichter an der Zahl der Fehler?
Ich würde da nicht in junge und ältere Unparteiische trennen. Dass die Schiedsrichter zuletzt an zwei, drei Wochenenden geballt in die Kritik gerieten, lag ja auch daran, dass selbst stete Größen wie Felix Brych oder Wolfgang Stark unglückliche Entscheidungen getroffen haben. Und dass bei Christian Dingert ein persönlich schlechter Tag mit der Spielleitung Eintracht Frankfurt gegen 1899 Hoffenheim zusammenfiel, war einfach Pech.
Wie führt man denn einen Schiedsrichter behutsam an die Bundesliga heran?
Das ist nicht so einfach wie bei einem jungen Spieler. Ich kann ja nicht zu einem Schiedsrichter sagen: Pfeif’ mal eine Halbzeit, dann sehen wir weiter. Aber es gibt da schon die eine oder andere Idee, die umgesetzt werden könnte.
Zum Beispiel?
Man hätte Zweitliga-Schiedsrichter, denen der Sprung nach oben zugetraut wird, mal bei dem einen oder anderen Bundesliga-Spiel reinschnuppern lassen und testen können. Um zu sehen, wie sie mit der Aufgabe und dem Druck umgehen. Dann hätten sie sich hinterher vielleicht ein bisschen leichter getan.
Wird aktuell in der Bundesliga mehr gekämpft und gefoult als früher?
Zwei Dinge haben sich sicher verändert: Taktische Fouls werden heutzutage als probates Stilmittel gesehen. Und das Spiel ist viel schneller geworden, folglich kommen Gegenspieler öfter zu spät – das führt nicht nur zu mehr Fouls, sondern oft auch zu Fouls, die schlimm aussehen.
Was bedeutet das für die Schiedsrichter?
Sie müssen noch mehr dafür tun, um schnelle, technisch versierte Spieler zu schützen.
Borussia Dortmunds Trainer Thomas Tuchel beklagt immer wieder, wie oft seine Spieler gefoult werden.
Natürlich gibt es Mannschaften, die technisch und vom Tempo her unterlegen sind, und deshalb vor allem darauf aus sind, den Spielansatz des Gegners zu zerstören. Darauf muss sich der Schiedsrichter einstellen. Aber das war schon immer so. Dafür kommt ein neuer Aspekt hinzu.
Welcher?
Fehler von Schiedsrichtern werden heute viel mehr in den Fokus gestellt, und das nicht nur von den Medien. Manchmal habe ich das Gefühl, dass regelrecht auf einen vermeintlichen Fehler des Unparteiischen gewartet wird, an dem man alles aufhängen kann. Das folgende Gejammer wird mittlerweile als Stilmittel benutzt – vor allem in Vereinen, die den eigenen Ansprüchen bisher nicht gerecht geworden sind.
Wie schwer machen es die Spieler den Schiedsrichtern?
Auffällig ist schon, dass viele erst nach dem Schlusspfiff, wenn sie womöglich bereits die TV-Bilder gesehen haben, ehrlich sagen, was passiert ist.
Ging es früher ehrlicher zu?
Es wurde mit offenerem Visier gekämpft. Wenn ein Spieler etwas gemacht hatte, dann hat er die Strafe auch akzeptiert.
Derzeit wird der Videobeweis getestet …
… und diese Testphase läuft sehr gut. Es wird sehr intensiv trainiert, was ich begrüße, denn es braucht für den Videobeweis echte Experten. Es ist nicht leicht, in der Kürze der Zeit eine Szene aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu untersuchen und sich ein unumstößliches Urteil zu bilden.
Der Videobeweis soll nächste Saison kommen. Wird dann alles gut?
Nein, aber der Videobeweis hilft auf jeden Fall dabei, die Spitzen zu glätten.
Was bedeutet das?
Ganz einfach: Es werden nicht nur wichtige Entscheidungen des Schiedsrichters bestätigt, sondern auch die größten Fehler vermieden.
Die Schwalbe von Timo Werner?
Wäre erkannt worden.
Der Ellbogenschlag von Frankfurts David Abraham gegen den Hoffenheimer Sandro Wagner?
Hätte zur Roten Karte geführt.
Die Ampelkarte für den Dortmunder Marco Reus in Hoffenheim?
Wäre zurückgenommen worden.
Drei der größten Aufreger der Bundesliga-Vorrunde …
… hätte es nicht gegeben. Und damit wäre die Diskussion über die Leistungen der Schiedsrichter nie geführt worden, zumindest nicht in dieser Schärfe.