Der langjährige Bosch-Chef Hermann Scholl Foto: Lichtgut/Achim Zweygarth

50 Jahre lang stand Hermann Scholl in Diensten von Bosch, zehn davon als Chef. Im Interview sagt Scholl, der am Sonntag 80 Jahre alt wurde, wie sich die Branche entwickeln wird.

Stuttgart - Herr Scholl, Sie stehen für bahnbrechende Neuerungen wie die Diesel-Hochdruckeinspritzung, durch die sich die Zahl der Diesel-Käufer verdreifacht hat, und für das ESP, mit dem Autos kaum noch ins Schleudern kommen. Was muss man mitbringen, um auf solche Ideen zu kommen und sie zu realisieren?
Man muss die Märkte kennen und ein Gespür dafür haben, was Verbrauchern und Kunden nutzen könnte. Sehr wichtig ist aber auch, weit nach vorne in die Zukunft zu schauen. Denn von der Idee bis zu ihrer Realisierung vergehen leicht vier bis fünf Jahre, in denen sich auch die Technologien wandeln. Man muss deshalb gut abschätzen, welche auch anderen Technologien in den nächsten Jahren entstehen werden und zu welchem Preis und mit welcher Zuverlässigkeit sie auf den Markt kommen könnten.
Welche Voraussetzungen haben Sie bei Bosch vorgefunden?
Die Voraussetzungen damals waren hervorragend. Zwar war Bosch bis Ende der fünfziger Jahre praktisch ein Maschinenbaukonzern. Doch schon damals beschäftigte sich das Unternehmen in der Forschung bereits mit der Halbleitertechnologie. Die Kompetenz in der Präzisionsmechanik und der Elektronik kombiniert mit der Halbleitertechnologie war letztlich die Basis für bahnbrechende Neuerungen wie das ESP, die digitale Motorsteuerung, das Antiblockiersystem ABS oder – am allerwichtigsten – das Common-Rail-System, die Hochdruck-Direkteinspritzung für den Diesel.

„Für das automatisierte Fahren ist das ESP, das Bosch 1995 auf den Markt gebracht hat, eine entscheidende Komponente“

Was hebt die Diesel-Direkteinspritzung gegenüber den anderen Technologien so hervor?
Diese Technologie hat in Europa eine Revolution bei Pkw-Antrieben ausgelöst. Innerhalb weniger Jahre hat sich der Diesel-Anteil bei den Neuzulassungen in Europa mehr als verdreifacht – von 15 auf rund 50 Prozent. Da wir als Erste mit dem Common-Rail-System auf dem Markt waren, konnten wir uns hohe Marktanteile sichern. Diese Revolution prägt das Unternehmen bis heute. Wir konnten unsere Marktposition weiter ausbauen. Das Geschäft mit Dieseleinspritzsystemen ist heute der größte einzelne Arbeitsbereich des Unternehmens.
In Ihrer Amtszeit als Bosch-Chef wurde der Wandel von elektrischen zu elektronischen Komponenten entscheidend vorangetrieben. Welche Bedeutung hat dies für die heutige Entwicklung der Branche?
Einer der Trends in der Autobranche ist heute die Vernetzung – die Kommunikation und der Datenaustausch von Fahrzeug zu Fahrzeug und zwischen Fahrzeugen und ihrer Umgebung. Die Vernetzung setzt eine interne elektronische Basis in Fahrzeugen voraus. Fahrzeuge können nur zu „Gesprächspartnern“ werden, wenn sie mit Elektronik ausgestattet sind, die senden und empfangen kann. Dabei spielt die Elektronik-Kompetenz, die Bosch sich über lange Jahre hinweg erarbeitet hat, eine entscheidende Rolle. Eine wesentliche Komponente für das automatisierte Fahren ist auch das Stabilitätsprogramm ESP, das Bosch 1995 auf den Markt gebracht hat. Denn wenn ein automatisiert fahrendes Fahrzeug in schwierige Fahrsituationen gerät und der Fahrer selbst nicht eingreifen kann, muss die Elektronik dafür sorgen, dass das Fahrzeug auf jeden Fall stabil bleibt.
Hätten Sie sich in Ihrer Zeit als Bosch-Chef vorstellen können, dass Autos einmal ohne Fahrer unterwegs sein könnten?
Ich konnte schon Anfang der neunziger Jahre auf der Teststrecke eines japanischen Herstellers mit solch einem Auto mitfahren. Es war zwar noch sehr langsam unterwegs und bis unters Dach vollgepackt mit Elektronik – doch es fuhr schon ohne Fahrer. Auch Bosch hat in den neunziger Jahren bereits mit diesen Technologien experimentiert.
Warum ist sie dann noch nicht auf dem Markt?
Es ist noch ein langer Weg, bis man in der Stadt wirklich ein Auto zu sich rufen kann, sich fahren lässt, nebenher E-Mails bearbeitet und es dann wieder wegschickt.

„Automatisierte Autos müssen 100 Prozent sicher sein. Mehrere parallele Systeme wie beim Flugzeug sind fürs Auto aber zu teuer“

Welches sind die Hürden?
Technisch ist das heute bereits möglich. Bosch ist schon seit zwei Jahren mit automatisiert fahrenden Autos auf öffentlichen Straßen unterwegs. Die Systeme müssen natürlich 100-prozentig sicher sein. Im Flugzeug setzt man für kritische Funktionen drei oder gar fünf parallel arbeitende Systeme ein. Die Ausgangssignale der Systeme werden verglichen und dann wird eine sogenannte Mehrheitsentscheidung getroffen. Diesen Aufwand kann man sich bei Fahrzeugen unmöglich leisten.
Zu den großen Trends der Autobranche gehört ja neben der Digitalisierung auch die Elektrifizierung. Bisher hat das batterieelektrische Fahrzeug aber nur einen sehr kleinen Marktanteil. Hat es aus Ihrer Sicht überhaupt eine Zukunft?
Ähnlich wie das automatisierte Fahren hat auch das elektrische Fahren eine lange Vorgeschichte. Bereits Ende der sechziger Jahre hatte Bosch erste Prototypen mit elektrischem Motor, elektronischer Steuerung und Blei-Batterie ausgerüstet. Die Technik hatte aber keinen Erfolg. In den achtziger Jahren scheiterten auch gemeinsame Versuche mit deutschen Busherstellern.
Was war die Ursache?
Die Versuche scheiterten vor allem an der Batterie. Heute ist die Batterietechnologie wesentlich weiter, denn Lithium-Ionen-Batterien haben eine deutlich höhere Energiedichte. Trotzdem liegt die Reichweite von elektrisch angetriebenen Fahrzeugen noch immer weit unter der von Benzin- und vor allem von Dieselfahrzeugen.

„In einigen Jahren bietet, die E-Auto-Batterie die doppelte Energiedichte zum halben Preis. Das reicht aber nicht“

Bisher ist den Ingenieuren aber meist mehr eingefallen, als man Ihnen zunächst zugetraut hat.
Es wird in den nächsten Jahren möglich sein, die Energiedichte zu verdoppeln und gleichzeitig die Kosten zu halbieren. Aber das wird noch nicht ausreichen, um beim reinen Batterieantrieb einen Durchbruch zu erzielen, wie er beim Diesel-Pkw durch das Common-Rail-System gelungen ist. Dazu sind ganz neue Batterietechnologien erforderlich. An diesen wird weltweit gearbeitet.
Asien hat durch seine Laptop- und Kamerahersteller jahrzehntelange Erfahrung mit der Lithium-Ionen-Batterie. Kann Deutschland das noch aufholen?
Natürlich hat Asien hier einen großen Vorsprung. Doch die Karten werden jetzt neu gemischt. Eben weil diese konventionelle Technologie für einen Durchbruch der Elektromobilität nicht ausreichen wird, forschen Unternehmen weltweit an Alternativen, auch in Deutschland. Deshalb besteht durchaus die Chance, dass alternative Systeme letztlich nicht nur in Asien, sondern auch in Deutschland zum Erfolg gebracht werden. Damit könnte Deutschlands Autoindustrie an ihre großen Erfolge der Vergangenheit anknüpfen.
Auch bei der Digitalisierung ist die weltweite Konkurrenz groß. Google und Apple haben längst ein Auge auf die Autoindustrie geworfen und streben an, mit ihren Vernetzungstechnologien möglichst viel Wertschöpfung für sich selbst abzuzweigen.
Im Silicon Valley wird in der Tat mit viel Kreativität an neuen, vor allem softwarebasierten Systemen gearbeitet. Doch für die Vernetzung von Fahrzeugen beispielsweise spielt auch die Hardware eine entscheidende Rolle. Ohne diese fehlen der Software die Anwendungsmöglichkeiten. Bei der Hardwarekompetenz sind Deutschland und Europa gut aufgestellt. Deshalb bin ich sehr zuversichtlich, dass wir bei der Vernetzung einen wichtigen Trumpf besitzen, den wir uns auch nicht aus der Hand nehmen lassen werden.

Die Menschen müssen Zusammenhänge ganzheitlich erfassen können, damit uns die Kraft zur Innovation nicht ausgeht“

Die Autohersteller und ihre Zulieferer unterhalten heute weltumspannende Produktionsnetzwerke und bringen ihre Standorte somit in Konkurrenz zueinander. Welche Stärken und Schwächen haben deutsche Standorte in diesem Wettbewerb?
Unter internationalem Konkurrenzdruck hat Bosch bereits in den neunziger Jahren begonnen, im Ausland Kapazitäten aufzubauen. Doch das waren keine Verlagerungen, sondern Ergänzungen zu unseren hiesigen Standorten. In den vergangenen 15 bis 20 Jahren hat Bosch in Deutschland in der Regel sogar zusätzliche Mitarbeiter eingestellt. Genügend Beschäftigung in Deutschland kann es vor allem dann geben, wenn wir ständig neue, innovative Produkte entwickeln. Deshalb ist es außerordentlich wichtig, dass unser Bildungssystem Leute hervorbringt, die nicht nur gut ausgebildet, sondern auch kreativ sind.
Gibt es diese Leute in ausreichender Zahl?
Die Entwicklung unseres Bildungssystems geht leider in die falsche Richtung. Es wird vor allem Wissen vermittelt, das schnell erlern- und abrufbar ist, um sich auf die nächsten Prüfungen vorzubereiten. Was wir aber brauchen, sind Mitarbeiter mit soliden Grundkenntnissen, die auch kreative Wege einschlagen können. Die Menschen müssen Zusammenhänge ganzheitlich erfassen können, damit uns die Kraft zur Innovation nicht ausgeht.
Der deutsche Diplom-Ingenieur ist durch die Abschlüsse Bachelor und Master ersetzt worden. War das ein Fehler?
Auf den Diplom-Ingenieur konnte man natürlich stolz sein – ich selbst bin es auch. Aber auch das System mit Bachelor und Master hat durchaus seine Vorzüge. Es macht Studieninhalte vergleichbar und ermöglicht auch Studenten, denen der Master Schwierigkeiten bereiten würde, einen qualifizierten Berufseinstieg. Wir brauchen schließlich nicht nur Master und Promovierte. Doch auch hier gilt, dass zusammenhängendes Wissen wichtiger ist als auswendig Gelerntes.