Oft ist die Zahl der Gottesdienstbesucher überschaubar. In der Regel kann der Pfarrer seine Gemeindeglieder am Sonntagmorgen mit Handschlag begrüßen. Letzter Stand in Stuttgart: 823 Protestanten weniger. Doch Stadtdekan Schwesig stemmt sich gegen den Trend.
Stuttgart - Sonntagmorgen in der evangelischen Nordgemeinde: Es treffen sich drei Leute in der Martinskirche, um Gottesdienst zu feiern. Der Pfarrer, der Mesner und der Organist.
Es ist kein schlechter Witz, sondern Realität, wie ein Insider der Nordgemeinde berichtet. „Das ist vielleicht ein extremer Ausreißer, aber oft sind es an einem Sonntagmorgen nur sieben Gottesdienstbesucher in der Martinskirche.“
Szenenwechsel: Sonntagabend in der Nordbahnhofstraße 58, Gemeindehaus der Nordgemeinde. Knapp 150 Besucher werden kurz vor sieben durch ein riesiges Plakat an der Hauswand des Gemeindezentrums begrüßt. „Willkommen im Leben – Jesustreff.“
Worte, mit denen sich an jedem Sonntag im Schnitt 400 Gottesdienstbesucher einstimmen lassen. Morgens um 11 Uhr, nachmittags um halb fünf und abends um sieben. Drei Gottesdienste, dreimal volles Haus.
Im Norden stimmen die Menschen mit den Füßen über die Gottesdienstform ab
Ein Quartier, zwei Welten. Ein Thema, nämlich Gott. Aber es werden Menschen mit völlig unterschiedlichen Interessen angesprochen. Im Norden stimmt die Stadtgesellschaft sozusagen mit den Füßen ab.
So wie in der Heilandskirche, wo vor vielen Jahren Pfarrer Albrecht Hoch mit Gospelmusik einen großen Aufbruch einläutete und verkrustete Strukturen aufbrach. Schnell platzte seine Heilandskirche dank der Gospelmusik aus allen Nähten. Inzwischen kommen alle vier Wochen rund 700 Christen abends in die Friedenskirche, um den Gospelhaus-Gottesdienst zu feiern.
Auch das Gospelhaus spricht die Menschen stärker an
Beide Gottesdienstformen kommen an. Der Jesustreff noch ein bisschen mehr als das Gospelhaus mit Starprediger Siegfried Zimmer. Dabei ist der Jesustreff fast schon ein alter Hut. „Wir waren zu fünft. Jung, unbedarft, enthusiastisch und wild entschlossen“, erinnert sich Gründungsmitglied Tobi Wörner, „unsere Frage lautete vor 15 Jahren: Wie müsste ein Gottesdienst aussehen, in dem wir uns wohlfühlen, unsere Freunde mitbringen und Gott begegnen können?“
Das Ergebnis ist der Jesustreff. Ein Gottesdienst, „ein Alien in der Kirchenlandschaft“ (Wörner), eine Laienbewegung. Letztlich ist es eine Veranstaltung, die sich an junge Erwachsene im Alter zwischen 20 und 50 Jahren richtet. Besser gesagt: vor allem an die Städter. Eben an Menschen, die oft keinen Bezug zu ihrer Ortsgemeinde haben. „Jesustreff nimmt das urbane Prinzip auf“, sagt Wörner, „hier greift das Parochialprinzip nicht.“ Damit meint er das Organisationsprinzip der klassischen Kirchen. Also auch eine geografische Aufteilung des Sprengels. Zum Jesustreff kommen die Menschen aus allen Stadtteilen. Freunde bringen den Freund vom Freund mit in den Norden der Stadt.
Luthers Reformfreude dient als Vorbild
In gewisser Weise wird bei Tobi Wörner und seinem Team der Grundgedanke des großen Reformators in Reinkultur umgesetzt. Sempre reformanda. Unermüdliche Erneuerung. Das schrieb Martin Luther seiner Kirche ins Stammbuch. Tobi Wörner und seine Mitarbeiter bringen es im Norden zum Leben. Sie machen das, was der klassische Gottesdienst nicht bietet. „So hatten wir in kürzester Zeit einen Riesenzulauf“, sagt Wörner. Die Frequenz musste deshalb von zwei Sonntagsgottesdiensten auf drei erhöht werden.
Erfolgsgeheimnisse sind neben dem eigentlichen Gottesdienst flache Hierarchien und lebensnahe Themen. „Wir setzen stark auf Beteiligung“, sagt Wörner, „das bringt Nähe und Identifikation.“ Zudem sei der Gottesdienst keine „Pfarrer-One-Man-Show“. Mehr noch: „Bei uns soll Kirche jeder so leben können, wie er sie gut findet.“
Was das bedeutet, lässt sich an einem Sonntag mühelos bei den Gottesdienstbesuchern erfragen. Die Antworten reichen von „Ich brauche keine Moralprediger mit erhobenem Zeigefinger“ bis „Die verschiedenen Anfangszeiten sind genial, und die Lobpreislieder sind toll“. Ein Marketingmensch würde sagen: Die Form ist perfekt auf die Zielgruppe angepasst. Sie passt zur Stadt.
Vieles ist anders als bei klassischen Gottesdiensten. So gibt es am Eingang Getränke – auch Bier. Eine Band mit Keyboard, Schlagzeug und Gitarre ersetzt zwar die Orgel, aber nicht unbedingt klassisches Liedgut. Auch Paul Gerhardt (1607–1676) kommt beim Jesustreff mit „Wie soll ich dich empfangen“ zu Ehren.
Es geht nicht um alt oder neu. Es geht um das Empfinden der Besucher. Um gute oder schlechte Gefühle. Daher ist der Unterhaltungswert nicht unwichtig. Die Besucher werden von einem Moderator durch das Programm geführt und per Videoclip auf die Predigt vorbereitet. Ein spiritueller Impuls, der vor allem eines leisten soll: konkrete Lebenshilfe. „Die Predigt muss den Leuten etwas für den Alltag, für ihr Leben geben“, sagt Prediger Tobi Wörner, „ich will das alte Wort neu aufschließen, dass es uns wieder ins Herz plumpst.“ Und wenn es so richtig plumps macht, stört es beim Jesustreff auch keinen, wenn der Nachbar mit seinem Smartphone noch schnell eine Kurznachricht verschickt.
Das Dach der Landeskirche ist wichtig
Manchen mag das an freikirchliche Gottesdienste erinnern. Aber die Heimat der Jesustreffler ist die Landeskirche. „Das ist uns ganz wichtig“, betont Wörner, „wir schätzen die Weite und Offenheit der Landeskirche.“ Er meint das Dach, das Pietisten und liberale Protestanten vereint. Tobi Wörner verschweigt aber auch nicht, „dass wir oft gegen die konservativen Strukturen der Kirche geprallt sind“.
Doch das hat sich geändert. Stadtdekan Sören Schwesig hat dafür gesorgt, dass der Jesustreff beim vergangenen Gesamtkirchengemeinderat einen rechtlichen Rahmen bekommen hat. Schwesig stemmt sich so gegen den allgemeinen Negativtrend, unter dem Kirchen leiden. Den Frust gegen die Institution Kirche und die damit verbundenen Austritte. „Schwesig hat erkannt, wie die Uhren in der Stadt ticken“, lobt Tobi Wörner, „er hat sich daher für uns voll reingehängt.“
Schwesig hat es nicht nur für Gotteslohn getan. Auf diesem Weg lässt sich der allgemeine Abwärtstrend in den Amtskirchen vielleicht stoppen.