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Moskau schickt sechs Frauen älteren Semesters nach Baku: Die Babuschkas von Buranowo.

Moskau - Wer mit Süßigkeiten überfüttert wird, bekommt Lust auf Salzheringe. So oder ähnlich muss die russische Eurovision-Jury spekuliert haben, als sie sich nicht für Rock, Pop oder Tanz, sondern für die Folkloregruppe Buranowskije Babuschki entschied. Der Name leitet sich von ihrem Heimatdorf Buranowo ab. Nach zahllosen hüpfenden, kreischenden und Purzelbäume schlagenden Stars könnten sechs ältere Frauen in Tracht dem Publikum tatsächlich als erfrischende Oase erscheinen.

Streng genommen heißt die Gruppe Brangurtysj pessjanajös, denn die Omas singen in ihrer Muttersprache Udmurtisch, die zu den finnisch-ugrischen Sprachen gezählt wird. Obwohl die Udmurten in Russland leben, haben sie sprachlich mit Finnen und Ungarn mehr zu tun als mit Russen. Deshalb ist ihre farbenfrohe Trachtenkleidung mit Kopftüchern, aus Münzen zusammengesetzten Ketten am Hals und Bastschuhen auch nicht die russische Nationalkleidung. Ihre Republik im Uralvorgebirge ist ein richtiger Bärenwinkel, aber keineswegs so unbekannt, wie man denken könnte. Immerhin ist deren Hauptstadt Ischewsk die Heimat der berühmten Kalaschnikow.

„Party for everybody“ mit gewagter Übersetzung

Der Hit „Party for everybody“ beginnt so: „Schokkyschet tödjy wöldyskö, piosme wosmasko“, was in doppelter Übersetzung über das Russische bedeutet: „Sorgsam breite ich eine Tischdecke in Erwartung meiner Söhne aus.“ Wer hätte das gedacht? Und der Refrain auf Englisch: „Party for everybody – dance, come on and dance, come on and dance, come on and – boom boom.“

Bei der nationalen Vorausscheidung am 7. März in Moskau waren die Omas mit diesem Lied dem konkurrierenden Paar Dima Bilan und Julia Wolkowa mit 38,51 Punkten gegenüber 9,26 Punkten haushoch überlegen. Bilan hatte 2008 mit „Believe“ den Sieg im Eurovision Song Contest für Russland geholt. Ob die Omas in Baku mit ihrem „Bum, bum“ gleichziehen können, ist keineswegs sicher. Einen unschätzbaren Vorteil haben sie allemal: Das Singen macht ihnen selbst sichtbar ungeheuren Spaß. Da fehlt zum Sieg nur eine Kleinigkeit: Jury und Fernsehpublikum müssen sich davon anstecken lassen.

Den udmurtischen Text verfasste die künstlerische Leiterin der Babuschkas, Olga Tuktarjewa. Der englische Refrain stammt von Mary Susan Applegate, die unter anderem mit Modern Talking zusammengearbeitet hat. Die Omas sind bereits in Baku eingetroffen und haben auf der Bühne geprobt.

Eine Mischung aus Trash-Pop und Folk

Experten sind über die Erfolgschancen der Babuschkas geteilter Meinung. Der Kritiker Arthur Gasparjan meint, Europa könnte die absonderliche Gruppe als „musikalischen Jux“ auffassen. Deshalb seien deren Siegeschancen „minimal“. Der Produzent Josef Prigoschin sagte zwar, die Omas verfügten über ausgeprägte Individualität und Anziehungskraft. Er wisse freilich nicht, ob es zum Sieg reiche. Der bekannte Schlagerkomponist Igor Krutoi meinte dagegen, die Gruppe sei „prächtig“, und es würde ihn nicht wundern, wenn sie den Gesamtwettbewerb gewinne.

Der russische Kritiker-Guru Ken schätzte die Erfolgschancen der Gruppe ausnehmend hoch ein. Sie erfülle mehrere unabdingbare Voraussetzungen, sagte er. Die Teilnehmerinnen seien ausgemachte Freaks, ihre Musik falle unter Trash-Pop und Folk. Und dann seien sie „echt“, was man auf der russischen Popbühne nie antreffe. Der bekannte Rockkritiker Artemi Troizki, der nach eigenen Wort vom Eurovision Song Contest „sonst nicht viel hält“, sprach sich über die Babuschkas überaus lobend aus. Die Wahl der russischen Jury sei offenbar ein Verzweiflungsakt gewesen, meinte er. Die russische Popbühne sei „derart monströs, hinterwäldlerisch und konkurrenzunfähig“, dass Experten und Zuschauer weniger für die Trachtenomas als gegen die russische Popmusik gestimmt hätten. Es sei eine Protestabstimmung gewesen, so Troizki.