In Stockholm steigt in diesem Jahr des ESC-Finale. Foto: AFP

42 Länder schicken ihre Kandidaten zum ESC nach Stockholm. Für jeden Pop-Musikgeschmack ist was geboten. Doch wer schafft es wirklich ins Finale, wer sind die Favoriten? Wir geben einen Überblick.

Stockholm - 61. Eurovision Song Contest: Kandidaten aus 42 Ländern konkurrieren in Stockholm um die Ehre, den besten Popsong zu präsentieren. Cooler Pop, harter Rock, große Balladen, schrille Auftritte – auch in diesem Jahr ist wieder alles dabei. Wobei es einen klaren Trend gibt: weniger Trash, mehr Professionalität – in Schwedens Hauptstadt wird aus den 42 Teilnehmerländern viel gute Popmusik zu hören sein. Wobei: eigentlich sollten es sogar 43 Länder sein. Aber weil Rumänien schon seit Jahren die Rechnungen des Veranstalters, der Europäischen Rundfunkunion, nicht zahlt, wurde es kurzfristig disqualifiziert.

In zwei Halbfinalen am 10. und 12. Mai entscheidet sich, wer beim großen Finale am 12. Mai im Ericsson Globe antreten darf. Wobei sechs Finalisten von vornherein gesetzt sind: neben dem Gastgeber Schweden die Eurovisions-Hauptgeldgeber Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien und Spanien.

Wer beim ESC antritt, ist über Monate hinweg in nationalen Wettbewerben entschieden worden. Die Videos der ESC-Titel sind schon seit einiger Zeit im Netz zu besichtigen. Wir haben alle Kandidaten und Titel vorab gecheckt und geben hier einen Überblick, was uns in der ESC-Woche erwartet. Wobei: Obacht! Videos sind das eine – entscheidend beim Song Contest ist immer der Live-Auftritt auf der Bühne. Mancher, der im Film perfekt gestylt ist, versagt auf der Bühne mit dünnem Stimmchen. Und manches, was vorab im Video eher schräg wirkte, gewann die Herzen der Fernsehzuschauer durch Stimme und Live-Präsenz. Wir sagen nur: Conchita Wurst!

Halbfinale 1 am Dienstag, den 10. Mai 2016: Zu sehen ist es ab 21 Uhr auf den TV-Sendern Phoenix und Eins Festival. Das deutsche Publikum darf heute Abend nicht abstimmen, sondern nur genießen. 18 Länder treten an, die zehn Bestplatzierten kommen weiter ins Finale.

Zum Auftakt muss die finnische Sängerin Sandhja auf die Bühne. Finnland hat es immer ein bisschen schwer, beim ESC zwischen den popstarken skandinavischen und baltischen Nachbarn auf sich aufmerksam zu machen, lässt sich durch Misserfolge aber nicht ermutigen. Sandhja versucht es mit dem schmissigen „Sing It Away“ ganz klassisch im Folk-Disco Stil. Ihr Lied ist hübsch zum Mitgrooven – es bleibt aber nicht lang in Erinnerung. Risiko!

Startnummer 2: die griechische Gruppe Argo tut erst gar nicht so, als ginge es in ihrer Heimat gerade besonders fröhlich zu. „Utopian Land“ ist ein ziemlich kämpferischer Folk-Ska-Rap, das Video bietet dazu ausgesprochen düster-martialische und kämpferische Bilder. Immerhin: die Sängerin ruft zur Hoffnung auf: „With the Rise in the rising Sun / Dance with us and have some fun“. Ein sehr eigenwilliger Titel, darum finaleträchtig.

Startnummer 3: Auch die kleine Republik Moldau wird nicht müde, Jahr um Jahr um den Finaleinzug zu kämpfen und hat es schon mit allen denkbaren Stilen versucht. Die Sängerin Lidia Isac setzt diesmal mit ihrem Titel „Falling Stars“ ganz auf Frauen-Eurodance-Pop. Das klingt während der drei Minuten gar nicht schlecht, ist aber auch etwas beliebig und wird deshalb sehr leicht bei der Abstimmung untergehen.

Startnummer 4: Ungarn ist bei den ESC’s der jüngeren Zeit oft durch musikalisch anspruchsvolle Nummern aufgefallen. Bei Freddie und seinem Titel „Pioneer“ wird vor allem getrommelt und gepfiffen. Der junge Sänger irritiert zunächst mit seiner rauchigen Stimme, dann aber kommt sein Titel ordentlich in Schwung. Außerdem hat er einfach einen traurigen, melancholischen Blick. Der Einzug ins Finale dürfte ihm mit dieser Gesamtperformance sicher sein.

Startnummer 5: Schwer dagegen dürfte es die blonde Sängerin Nina Kraljic aus Kroatien haben. Im Video zu ihrem Titel „Lighthouse“ sind fast nur Wolken und Meer zu sehen. Der Sound ist ein Folk-Pop-Mystic-Mix mit allerlei Getröte, dazu singt Nina in sehr schlechtem Englisch. Eine weitere Risikokandidatin.

Startnummer 6: In den Niederlanden gibt es eine große ESC-Fangemeinde, aber mit dem Einzug ins Finale tut man sich traditionell oft schwer. Der junge Sänger Douwe Bob ist eine sympathische Erscheinung und singt in seinem Folk-Song „Slow Down“ sehr nett über die Vorzüge eines ruhigeren Lebens. Hübsch zu hören, aber auch schnell vorbei geplätschert. Risiko.

Die Teilnehmer 7 bis 12 des ersten Halbfinales

Startnummer 7: Eine tolle Nummer kommt wieder aus Armenien, wobei die Sängerin Iveta Mukuchyan inzwischen auch halb in Hamburg zuhause ist. „Love Wave“ wurde aber tatsächlich in Armenien komponiert und bietet zu ihrer interessanten Stimme einen tollen Sound, durchsetzt mit Folk-Elementen, ohne platt folkloristisch zu wirken. Das Video ist toll. Ob es für das Finale reicht? Das muss Ivetas Stimme bei der Live-Performance zeigen.

Startnummer 8: Die Minirepublik San Marino auf einem Berg in Italien lässt nicht locker. Diesmal will man aber nicht mir einem Titel von Ralph Siegel ins Finale, sondern mit dem türkischen Sänger Serhat, der im türkischen Fernsehen eine Quizshow präsentiert. Bei seinem Disco-Fox „I didn’t know“ macht er nun ganz auf alter Schwerenöter mit rauchiger Stimme und lässt sich dabei von jungen Mädchen umtanzen. Das ist hochgradig Retro und in Stockholm hoffentlich nur einmal zu sehen, nämlich im Halbfinale.

Startnummer 9: Achtung, Achtung: Hier tritt einer der diesjährigen ESC-Favoriten an. Russland will es wissen und schickt mit Sergej Lazarev einen heimischen Superstar ins Rennen, der nicht nur hochmusikalisch ist, sondern auch körperlich ungewöhnlich gut proportioniert.Keine Frage, der Pop-Kracher „You are the only One“ wird mühelos ins Finale sausen und dort in den Top Five auftauchen. Noch besser wäre die Nummer allerdings, wenn sie nicht ganz so kalkuliert daher käme – man merkt ein bisschen, wie hier nach dem idealen ESC-Gewinnerlied gesucht wurde.

Startnummer 10: Tschechien hatte bisher noch nie großes ESC-Glück. Nun versucht es Gabriela Guncikova mit einer großen Ballade: „I stand“ soll zeigen, dass man unbedingt durchhalten soll. Deswegen sind viele Geigen im Einsatz, Pathos ohne Ende, dazu steigert sich die Sängerin in großes Geknödel und Gemähre. Einer der schwächeren Titel dieses ESC-Jahrgangs.

Startnummer 11: Auch Zypern hat es wirtschaftlich und politisch in jüngerer Zeit nicht leicht gehabt, und auch die Herrengruppe Minus One kommt wohl deshalb kämpferisch auf die Bühne. Ihr Macho-Rockpopsong „Alter Ego“ ist nicht gerade ein großer Ohrenschmeichler, aber originell und durchdacht.

Startnummer 12: Es wird ja immer beklagt, dass beim ESC fast alle Englisch singen. Deswegen sucht Österreich diesmal nach einem Alleinstellungsmerkmal und lässt die junge Sängerin Zoe französisch trällern: „Loin d’ici“ ist ein hübsches Feelgood-Chanson mit starkem Retro-Charme – so sympathisch und ungewöhnlich, dass es für den Finaleinzug reichen sollte.

Die Teilnehmer 13 bis 18 des ersten Halbfinales

Startnummer 13: Alle drei baltischen Republiken sind in diesem ESC-Jahr mit starken Beiträgen vertreten – die nationalen Vorentscheide sind äußerst beliebt, die Talente drängeln sich hier. Jüri Pootsmann aus Estland ist zweifellos auch ein solches Talent. „Play“ beginnt als Ballade, wandelt sich aber plötzlich zum coolen, groovigen Clubpop und endet ganz in Bond-Song-Manier. Stark!

Startnummer 14: Aserbaidschan schneidet seit Jahr und Tag beim ESC herausragend ab. So herausragend, dass man als Beobachter schon manchmal dachte, da könne bei den Abstimmungen nicht immer alles mit ganz rechten Dingen zugegangen sein. Doch bei „Miracle“, dem Titel der Sängerin Samra, muss man zugeben, dass es zumindest im ersten Teil sehr interessant, cool und groovig zugeht. Der Refrain ist dann allerdings ganz auf Mehrheit zugeschnitten. Immerhin, unser Tipp: ein weiterer Finalsong.

Startnummer 15: Das kleine Montenegro macht diesmal ordentlich Krach: „The Real Thing“ des Herrentrios Highway ist ein knallharter Heavy-Metal-Ritt mit sehr viel Elektronik. Anstrengend.

Startnummer 16: Die Isländer lieben Musik, deswegen lieben die Isländer auch den ESC und werden für ihre qualitätsvollen Beiträge fast immer mit tollen Platzierungen belohnt. Ein Sieg war in 60 Jahren ESC-Geschichte allerdings noch nie drin. Vielleicht schafft es Greta Salome? Das wird ganz von ihrer Live-Stimme und ihrer Bühnenperformance abhängen. „Hear them Calling“ ist jedenfalls eine richtige fetzige Folk-Softpunk-Pop-Nummer.

Startnummer 17: Das Halbfinale ist schon fast vorbei, und wir haben noch gar keinen Balkansound vernommen? Da kommt Bosnien-Herzegowina gerade recht. Hochdramatisch präsentiert sich das gemischte Duo Dalal & Deen im Liebesduett – um dann auf halber Strecke vom vollbärtigen Rapper Jala und der wilden Cellistin Ana Rucner an den Rand gedrängt zu werden. Das musikalische Programm der Vier ist auf diese Art sehr umfangreich – ein bisschen zu vollgestopft für jene drei Minuten, die der ESC pro Song erlaubt.

Startnummer 18: Den Abschluss macht im ersten Halbfinale Ira Losco aus Malta. „Walk on Water“ ist mal wieder so ein Fall, bei dem man allzu schnell hört, wie die Produzenten versuchten, allerlei ESC-Erfolgsrezepte in einen Topf zu werden. Der hochdramatisch gesteigerte Beitrag lässt sich vielleicht als Fantasy-Pop beschreiben – ein neuer Trend vielleicht, zumindest fürs Finale auch tauglich und trotzdem ein bisschen anstrengend.

Die Teilnehmer 1 bis 6 des zweiten Halbfinales

Halbfinale 2 am Donnerstag, den 12. Mai: Zu sehen ist es ab 21 Uhr auf den TV-Kanälen Phoenix und Eins Festival. Die deutschen Fernsehzuschauer dürfen heute auch abstimmen, per Telefon oder Netz. 18 Kandidaten treten an, die zehn Bestplatzierten kommen ins Finale.

Die Startnummer 1 im zweiten Halbfinale hat Lettland, „Heartbeat“ des jungen Sängers Justs ist die zweite starke baltische Nummer dieses ESC-Jahrgangs. Der Titel ist ganz in der Tradition von Aminata, dem Überraschungserfolg des vergangenen Jahres: modern, cool, rockig, chillig; Lounge Pop eines schmucken jungen Mannes mit Super Stimme. Ein sicherer Finalist und ein Top Ten!

Startnummer 2: Aus Polen kommen in diesem Jahr nicht nur politisch, sondern auch musikalisch seltsame Töne. Der Jesusmähnen-hafte Michal Szpak hat ganz sicher eine große Stimme, aber die Knödelballade „Color of your Life“ geht schon nach der Hälfte der Zeit ganz entsetzlich auf die Nerven. Das ist vermutlich die Musik, die Präsident Kaczynski gerne privat hört.

Startnummer 3: Die Schweiz, eines der ESC-Gründernationen, tut sich seit vielen Jahren schwer mit dem Finaleinzug. Wir fürchten, dass wird mit der blonden Rykka, einem Marilyn-Monroe-Verschnitt, nicht besser werden. Ihre Ballade „The Last of our Kind“ wäre vor 14 Jahren modern gewesen beim Song Contest. Heute läuft so etwas gar nicht mehr.

Startnummer 4: Israel hat es schon aus politischen Gründen traditionell schwer in der ESC-Televoting-Gemeinschaft. Umso größer war die Freude im vergangenen Jahr beim ESC in Wien über die Oriental-Pop-Top-Ten-Platzierung von Nav Guedj. Nun soll es der leicht androgyne Sänger Hovi Star nachmachen. „Made of Stars“ ist eine an sich schöne Ballade, die allerdings in der Post-Produktion noch sehr stark mit Druck und Rhythmus-Power überfrachtet wurde. Riskant.

Startnummer 5: Weißrussland hat den langhaarigen Sänger Ivan nominiert. „Help You Fly“ ist ein rockiger Song, der eine große Stimme erfordert, die Ivan selbst im Video leider nicht immer hat. Irgendwie geht es im Text um Wölfe. Vor dem ESC wurde lanciert, in seiner Show in Stockholm wäre Ivan gern mit eben einem Wolf gemeinsam nackt auf die Bühne gekommen. Die EBU hat ihm dies zum Glück untersagt.

Startnummer 6: Ist das nun schrill oder schrecklich? Jedenfalls bringt die Serbin Sanja Vucic ZAA eine der ungewöhnlichsten Nummern des diesjährigen ESC auf die Bühne „Goodbye (Shelter)“ präsentiert große Gesten, Geigen, Flöten, Balkanfolk, ist musikalisch originell und sehr dynamisch. Ist aber irgendwie auch furchtbar zickig. Immerhin: großer Erinnerungswert.

Die Teilnehmer 6 bis 12 des zweiten Halbfinales

Startnummer 7: Noch immer ist Irland mit seinen sieben Gesamtsiegen die erfolgreichste ESC-Nation. Aber in den vergangenen Jahren tat sich die Republik sehr schwer mit ihren Titel, die letzte Finalteilnahme liegt jetzt schon fünf Jahre zurück! Nicky Byrne soll es mal wieder wie mit einem klassischen Feelgood-Popsong schaffen. „Sunlight“ ist sehr sympathisch und groovig, aber auch ein bisschen widerstandslos.

Startnummer 8: Mazedonien ist das Land, das sich beim ESC immer mit dem nervigen Titel „The former Yugoslavian Republic of“ schmücken muss, weil die Griechen wegen Grenzstreitereien es unbedingt so wollen. Zum Glück der Sprecher schafft es Mazedonien nur sehr selten in die Top-Bewertungen, und auch der Sängerin Kaliopi wird es in diesem Jahr kaum gelingen. „Dona“ soll eine große rauchige Opernarie sein, ist aber einfach nur nervig.

Startnummer 9: Der dritte starke Baltenstreich in diesem Jahr – Donny Montell aus Litauen. Wenn er seine Ballade „I’ve been waiting for this Night“ mit sehr hoher Stimme zu singen beginnt, hat man erst ein bisschen Sorge, es könnte nervig werden. Dann aber steigert der einsame Wolf sich, seine Stimme und den Song in wahre Höhen. Toll!

Startnummer 10: Im vergangenen Jahr in Wien dachte man noch, die Teilnahme von Australien sei einfach ein Geschenk an die völlig ESC-verrückten Fans Down Under zum 60. Geburtstag des Wettbewerbs. Doch weit gefehlt: auch in diesem Jahr ist der Fünfte Kontinent wieder dabei, muss sich allerdings zunächst im Halbfinale bewähren. Doch wir haben kaum Zweifel, dass dies Dami Im gelingen wird. Die aus Hongkong stammende Sängerin ist in Australien ein Top-Star, und ihr super Popsong „Sound of Silence“ hat wahrlich internationales Format. Super!

Startnummer 11: ManuElla aus Slowenien singt den Feelgood-Song „Blue and Red“. Darin wird nicht nur kräftig gejodelt, nein, endlich gibt es beim ESC auch mal wieder bei laufender Nummer einen rasanten Kleiderwechsel. Beliebig.

Startnummer 12: Wer aus Bulgarien keine anständige ESC-Kost erwartet, sollte zunächst einmal vorurteilslos Poli Genova erleben. Ihr Titel „If Love was a Crime“ ist cooler europäischer Pop, vielleicht etwas zu stark elektronisch befrachtet, aber absolut tanzbar. Unbedingt finalträchtig.

Die Teilnehmer 13 bis 18 des zweiten Halbfinales

Startnummer 13: Die Dänen versuchen es in diesem Jahr mal wieder mit skandinavischem Feelgood. Die drei Jungs von Lighthouse X sind bestimmt nett anzuschauen, und ihr Titel „Soldiers of Love“ ist auch nett anzuhören. Doch die große Gefahr bleibt: in dieses Ohr geht’s hinein, durchs andere wieder hinaus. Beim Televoting wird sich niemand mehr daran erinnern.

Startnummer 14: Schön, dass die Ukraine nach einem politisch bedingten Aussetzerjahr in Stockholm nun wieder dabei ist. Ob es wirklich eine gute Idee ist, die Sängerin Jamala mit dem Titel „1944“ antreten zu lassen, wird sich aber noch zeigen. Jamalas Eltern sind Krimtataren und wurden eben 1944 von den Sowjets deportiert. Mit einer überdramatischen Komposition und heftigen Stimmbrüchen versucht Jamala dieses Elend wachzurufen – Parallelen im Hirn des Zuhörers zu heutigen Konflikten zwischen Ukraine und Russland sind zweifellos erwünscht. Wenn es musikalisch überzeugen würde, könnte man nichts dagegen sagen (so wenig wie gegen den Erinnerungssong der Armenier im vergangenen Jahr in Wien an den Völkermord in der Türkei 1915). Doch „1944“ überzeugt musikalisch ganz und gar nicht. Es riecht nach Kalkül.

Startnummer 15: Norwegen genießt seit vielen Jahren unsere besondere ESC-Sympathie. Das Land braucht sich mit seinen musikalischen Qualitäten neben dem Popgiganten-Nachbarn Schweden keineswegs zu verbergen. „Icebreaker“ von Agnete ist dieses Jahr allerdings ein höchst gewagtes Spiel. Was mit coolen Club-Dubs beginnt, bricht zweimal zum Rocksong. Das ist letztlich nichts Halbes und nichts Ganzes.

Startnummer 16: Die Überraschungstiger dieses Jahres kommen aus Georgien. „Midnight Gold“ heißt der Titel einer Formation namens Nika Kocharev & Young Georgian Lolitaz, und wann hat man jemals beim ESC eine Gruppe derart rotzfrech mit den Erwartungen der Hörer spielen sehen! Sehr metal-like kommt der Titel daher, und wie aus heiterem Ende löst sich alles in Wohlgefallen auf. Absolut finalwürdig!

Startnummer 17: Wer’s noch nicht wusste, liest es jetzt – die Albaner sind ein hochmusikalisches und sangesfreudiges Volk, der nationale ESC-Vorentscheid in Tirana dauert dreieinhalb Stunden und ist ein Staatsereignis. In manchen Jahren waren die Albaner im ESC-Finale unsere Lieblinge. Unvergesslich: „Suus“ von Roona Nishliu 2012 in Baku, zeitgenössische Liedkunst vom Feinsten. Diese Höhe erreicht Eneda Tarifa mit „Fairytale“ nicht ansatzweise. Der Stilmix ist so wild, dass wird den Song auch beim dritten Mal in seiner Struktur nicht wirklich verstanden haben.

Startnummer 18: Ganz zum Schluss des zweiten Halbfinals kommt eine weitere heiße Favoritin auf den diesjährigen ESC-Gesamtsieg. Laura Tesoro aus Belgien will dort weitermachen, wo in Wien im vergangenen Jahr Loic Nottet mit seinem hervorragenden dritten Gesamtplatz aufgehört hat. „What’s the Pressure“ ist eine toll gemachter schneller Popsong mit viel Druck und ohne Allüren. Herrlich!

Und was machen die Big Six?

Und was machen die Big Six? Sechs Länder sind fürs Finale von vornherein gesetzt, müssen nicht durch die Quali. Ob das wirklich nur ein Vorteil ist? Abgesehen von Italien belegten alle Großen in jüngerer Zeit immer nur hintere Plätze. Sicherheit macht offenbar behäbig. Auch in diesem Jahr?

Schweden: Kein Land will wirklich zweimal hintereinander den ESC gewinnen, dafür ist die Show viel zu teuer. Nach dem grandiosen Auftritt und Sieg von Mans Zelmerlöw in Wien leistet sich der Gastgeber 2016 in Stockholm einen jungen Mann mit viel Spaß am Gesang: „If I were Sorry“ von und mit Frans ist hübsch anzuhören, aber hat keine Siegerqualität.

Frankreich: Holla! Die Franzosen singen jetzt auch auf Englisch, jedenfalls ab der zweiten Strophe. „J’ai cherché“ von Amir ist ein gut gemachter Pop-Chanson, der jungen Menschen offenbar Mut machen soll und Aussicht auf einen Endplatz im Mittelfeld hat.

Großbritannien: Die führende Popnation der Welt hat in den vergangenen Jahren auf dem ESC viel Jux und Tollerei getrieben und dafür stets desolate Ergebnisse als Quittung bekommen. Nach vielen Jahren kommt nun tatsächlich aus London mal wieder ein ganz klassischer Mittanz-Popsong: „You’re not alone“ mit dem Jungsduo Joe and Jake.

Italien: Oh, bella musica! Niemals würde Italien von seinem großen alljährlichen Liedwettbewerb in San Remo irgendwelchen Schrott zum ESC schicken. Diesmal vertritt Francesca Michielin die Grün-Weiß-Roten – mit wunderbar fettem Italienpop: „No Degree of Separation“.

Spanien: Die Sängerin Barei möchte offenbar der zusehends enttäuschten, weil perspektivlosen Jugend ihres Landes Mut machen, jedenfalls erzählt das Video diese Geschichte. „Say Yay!“ ist eine gutgemacht Popnummer: „Sag hallo! Hallo, hallo, Herr Gefahr / Kein Grund, Angst zu haben!“.

Deutschland: Zu den Chancen von Jamie-Lee und „Ghost“ wollen wir uns hier nur in aller Kürze äußern: Angesichts dieses starken und qualitätsvollen Wettbewerbs hat das ewige deutsche Casting-Gedöns null Chancen. Platz 20 wäre am Ende schon ein Erfolg.

Und ob es wirklich so kommen wird oder doch ganz anders, erfährt die Welt beim Finale des Eurovision Song Contest 2016 in Stockholm, zu sehen am Samstag, den 14. Mai, ab 21 Uhr in der ARD.