Im Europarat kommen Vertreter aus 47 Ländern zusammen. Foto: StZ

Der Austritt Russlands würde dem Europarat schaden, sagt Angelika Nußberger. Noch schwerwiegender wäre der Schritt für die russischen Bürger, so die Vizepräsidentin des Menschenrechtsgerichtshofes in Straßburg.

Stuttgart - Der Austritt Russlands würde dem Europarat schaden, sagt Angelika Nußberger. Noch schwerwiegender wäre der Schritt für die russischen Bürger, so die Vizepräsidentin des Menschenrechtsgerichtshofes in Straßburg.

Frau Nußberger, ist der Europarat noch zu retten?

Ich hoffe sehr. Wenn eine Institution 70 Jahre alt ist, und zahlreiche Vertreter anderer Kontinente neidvoll darauf blicken, dann sollte man das Erreichte nicht leichtfertig aufs Spiel setzen.

Was also ist zu tun tun?

Wir müssen Kompromissbereitschaft zeigen, und uns dabei dessen bewusst sein, was wir bisher schon mit dem Europarat erreicht haben. Die politischen Entscheidungsträger brauchen eine positive Einstellung, dass diese Institution etwas Erhaltenswertes ist.

Worin besteht der größte Erfolg des Europarates?

Das ist der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte. So eine Instanz, die Richterinnen und Richter aus 47 Ländern zusammenbringt, um bindende Entscheidungen zu fällen, die auch zu gesellschaftlichen Veränderungen beitragen, das ist wirklich eine große Errungenschaft. Der Gerichtshof braucht den Europarat, weil das Ministerkomitee für die Umsetzung der Urteile zuständig ist. So eine Institution könnte man heute nicht mehr schaffen, wenn es sie nicht schon gäbe.

Gerade mit der Umsetzung der Urteile gibt es immer wieder Schwierigkeiten, nicht zuletzt in Russland...

Das kommt auf den Blickwinkel an. Urteile des interamerikanischen Gerichtshofes für Menschenrechte werden nur zu einem geringen Teil umgesetzt. Bei uns ist die Quote sehr viel besser. Gerade auch im Verhältnis mit Russland. Problematisch sind besonders kontroverse und politisch sichtbare Fälle, aufgrund derer oft der Eindruck erweckt wird, die Urteile würden nicht implementiert.

Das bedeutet, in der täglichen Praxis läuft es besser?

Nur ein Beispiel. Der Gerichtshof hat Russland wegen der Art der Beendigung des Geiseldramas von Beslan im Jahr 2004, die zu einer sehr großen Zahl von Toten und Verletzten geführt hat, verurteilt. Mehr als 400 Kläger sind mit drei Millionen Euro entschädigt worden. Das macht die Toten nicht lebendig, aber es ist für die Opfer und Hinterbliebenen eine große Hilfe.

Ist die Arbeit des Europarates in der Öffentlichkeit bewusst genug?

In Deutschland steht beim Rechtsschutz der Bürger das Bundesverfassungsgericht im Vordergrund. In anderen Ländern ist der Gerichtshof und damit auch der Europarat sehr präsent, zum Beispiel in Georgien, der Ukraine oder auch auf dem Balkan. Aber so weit in die Ferne muss man gar nicht blicken. Auch in Frankreich und in England ist man sich der Rolle des Gerichtshofs mehr bewusst als bei uns. In England denkt man allerdings mit Ärger an den Gerichtshof, weil er das Wahlverbot für Häftlinge angeprangert hat.

Was würde ein Austritt Russlands bedeuten?

Für die Menschen in Russland wäre das gravierend. Eine wichtige Verbindung nach Europa würde gekappt. Gerade die jungen Menschen, die sehr hoffnungsvoll nach Europa blicken, stünden dann vor einer Mauer. Für den Gerichtshof würde es im Grunde weniger Arbeit bedeuten, weil viele Fälle aus Russland kommen; allerdings könnte er dann eben auch seine Mission nicht mehr erfüllen. Für den Europarat wäre es ein großer Bedeutungsverlust, weil er die einzige Institution ist, die einen runden Tisch zur Verfügung stellt, an dem Russland gleichberechtigt mit allen anderen Europäern sitzt.

Könnte Russland einen Dominoeffekt auslösen?

Einen Dominoeffekt hätte ich eher erwartet, wenn die Schweiz ausgetreten wäre. Aber vergangenes Jahr hat die Mehrheit in einer Volksbefragung dagegen votiert.

Nationale Eigeninteressen nehmen immer mehr zu. Ist ein Gremium mit 47 Nationen da noch konsensfähig?

Es stimmt, dass in Europa immer häufiger zu hören ist, dass man anders sein will als die anderen. Das ist hinnehmbar, so lange man dennoch bereit ist, einen gemeinsamen europäischen Grundkonsens zu erhalten. Es gibt heute nicht weniger Gemeinsamkeiten als 1990, als ein Staat nach dem anderen eine Aufnahme in den Europarat anstrebte. Nur der politische Wille hat sich vielleicht verändert.