Die Europaabgeordneten arbeiten in Brüssel, aber das Parlament kommt in Straßburg zusammen. Foto: dpa

Einmal im Monat macht sich ein Tross von rund 2500 Menschen von Brüssel nach Straßburg auf – zu den Sitzungen des Europaparlaments. Die Zahl der Kritiker an diesem Wanderzirkus wächst.

Straßburg - Einmal im Monat setzt sich von Brüssel aus ein Tross in Bewegung. Durchschnittlich 2500 Europaabgeordnete, Assistenten, Dolmetscher, Bedienstete und Lobby-Vertreter machen sich per Auto, Zug oder Flugzeug auf den Weg in das 430 Kilometer entfernte Straßburg. Zehn Lastwagen transportieren rund 1600 Metallcontainer mit Unterlagen in die Elsass-Metropole. Denn dort ist der offizielle Sitz des Europaparlaments und dort finden zwölf Mal im Jahr Plenartagungen statt - von Montagnachmittag bis Donnerstag. So läuft das seit Jahrzehnten - ungeachtet der wachsenden Proteste im Europaparlament gegen den „Wanderzirkus“.

Eine deutliche Mehrheit der 751 Abgeordneten fordert schon seit Jahren, das zeitaufwändige und teure Pendeln zu beenden und den Sitz der EU-Volksvertretung nach Brüssel zu verlagern. Dort wird ohnehin der Großteil der parlamentarischen Arbeit erledigt - in Sitzungen von Ausschüssen und Fraktionen, aber auch bei Verhandlungen über EU-Gesetze mit Vertretern der Kommission und des Rates der Mitgliedstaaten. Der Straßburger Glaspalast des Parlaments steht hingegen die meiste Zeit leer.

Brüssel-Befürworter schöpfen Hoffnung

Die Brüssel-Befürworter haben sich in der Initiative „single seat“ (dt. ein Sitz) zusammengeschlossen und eine Petition gestartet, die nach ihren Angaben von fast 1,3 Millionen Bürgern unterzeichnet wurde. Doch bisher scheitert jeder Vorstoß, den „Wanderzirkus“ zu beenden, am energischen Widerstands Frankreichs. Paris kann sich dabei auf den EU-Vertrag berufen, der Straßburg als amtlichen Sitz des Parlaments verankert und mindestens zwölf Plenartagungen pro Jahr vorschreibt. Und dieser Vertrag kann nur einstimmig geändert werden.

Dennoch schöpfen die Brüssel-Befürworter nun neue Hoffnung. Denn in der vergangenen Woche haben sie unverhofft mächtige Rückendeckung bekommen - von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU). Sie forderte auf einer Klausurtagung der Europäischen Volkspartei (EVP) in München, die Parlamentsarbeit auf einen Standort zu konzentrieren, nämlich Brüssel. Dies sei im Interesse der Handlungsfähigkeit des Parlaments. Der Vorstoß überraschte selbst den Vorsitzenden der EVP-Fraktion im Europaparlament, Manfred Weber (CSU), wie er vor Journalisten einräumte.

Harsche Reaktion aus Paris

Merkel vollzieht damit in der Tat eine Kehrtwende - schließlich haben alle ihre Vorgänger Straßburg als Sitz des Europaparlaments verteidigt. Entsprechend harsch ist die Reaktion aus Paris. Für die französische Regierung sei „der Status Straßburgs als Europa-Hauptstadt nicht verhandelbar“, betonte Europaministerin Nathalie Loiseau. Dies werde Frankreich auch bekräftigen, sollte das Thema unter dem bevorstehenden österreichischen EU-Vorsitz angesprochen werden.

Damit ist zu rechnen: Österreichs Kanzler Sebastian Kurz hat sich bei der EVP-Klausurtagung ebenfalls für die Verlegung des Parlaments nach Brüssel ausgesprochen. An guten Gründen dafür fehlt es nicht. Der „Wanderzirkus“ kostet viel Geld - die Schätzungen reichen von 110 bis 200 Millionen Euro jährlich. Viele Parlamentarier verweisen auch auf die Umweltbelastung durch das Dauerpendeln. Dadurch würden pro Jahr zwischen 11.000 und 19.000 Millionen Tonnen CO2 ausgestoßen, hat der CDU-Abgeordnete und Umweltexperte Peter Liese ausgerechnet. Er ist davon überzeugt, dass dank des Vorstoßes der Bundeskanzlerin nun wieder Bewegung in die Debatte kommt. Allerdings müsse Frankreich ein Ausgleich für Straßburg angeboten werden - etwa eine europäische Eliteuniversität oder ein Forschungsinstitut.

Der deutsche Grüne Sven Giegold vermutet, dass Merkel dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron eine „Retourkutsche“ gibt. Seit zwei Jahren treibe Macron die Kanzlerin mit idealistischen Pro-Europa-Reden vor sich her. „Der Verzicht auf den Wanderzirkus wäre ein interessanter Test für Macrons europäische Entschlossenheit.“ Jens Geier, der Leiter der SPD-Delegation im Europaparlament, ist wenig optimistisch. Macron habe die Möglichkeit gehabt, Straßburg als Sitz für die Europäische Arzneimittelagentur mit über 800 festen Mitarbeitern vorzuschlagen, die im Zuge des Brexit London verlassen muss. Diese Chance habe er nicht ergriffen. Und dies aus einem einfachen Grund: „Jeder französische Präsident, der Straßburg aufgibt, kann einpacken.“