Viele Flüchtlinge kommen über das Mittelmeer nach Europa. Die Anrainerstaaten sehen sich überfordert. Foto: imago//Antonin Burat

Von einem „historischen Momentum“ in der Asylpolitik spricht Bundesinnenministerin. Was Nancy Faeser damit meint – und was sich gerade wirklich tut.

Es war einmal ein Innenminister mit einem Masterplan – und das ging nicht gut aus. 2018 hatte sich die große Koalition gerade so zur Bundesregierung zusammengerafft, da drohte Horst Seehofer sie mit seinem 63-Punkte-Plan zur Asylpolitik schon wieder zu sprengen. Die Koalition überlebte dann zwar doch, doch wie man in Deutschland und der EU mit Geflüchteten dauerhaft umgehen will, ist bis heute nicht geklärt.

Jetzt will es Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) wieder versuchen. Sie hat sich das „Gemeinsame Europäische Asylsystem“ (GEAS) vorgenommen. Das GEAS ist die Grundlage für eine einheitliche EU-Asylpolitik. Sie regelt, wie mit Asylsuchenden umzugehen ist und wie die Verfahren aussehen, die entscheiden, wer bleiben darf. Das Problem mit dem GEAS ist allerdings: Es funktioniert nicht. Seit Jahren gibt es den Plan, das System zu reformieren. Geklappt hat es nie.

Das „Jetzt oder nie“-Gefühl

Doch Ende April klang es plötzlich so, als könnte sich etwas bewegen. Da zeigte sich Nancy Faeser überraschend optimistisch – und sprach sogar von einem „historischen Momentum“ für die Asylpolitik. Das klingt, als könnte es ernst werden mit der GEAS-Reform. Aber ist das so? Und was hat Faeser vor?

Um zu verstehen, warum die Innenministerin das Projekt gerade jetzt vorantreibt, muss man sich zwei Termine vor Augen führen: das Treffen der EU-Innenministerinnen und -Innenminister am 8. Juni dieses Jahres – und die Wahl des Europäischen Parlaments ziemlich genau ein Jahr später. Damit die GEAS-Reform zeitnah umgesetzt werden kann, muss sie im kommenden Jahr beschlossen werden – bevor das Parlament neu gewählt wird. Und ob das noch klappt, entscheidet sich bei dem Ratstreffen am 8. Juni. Spätestens dann müssten sich die Innenministerinnen und Innenminister einig werden.

Zeitdruck macht produktiv

Dieser Zeitdruck ist für die Reform nicht unbedingt ein Nachteil. Das „Jetzt oder nie“-Gefühl trägt wesentlich zu dem „Momentum“ bei, das Faeser beschworen hat. Wie das eben ist mit knappen Deadlines: Sie sind ein ziemlich effektiver Anreiz, um produktiv zu arbeiten. „Wenn das GEAS nicht kommt und damit eine verlässliche Registrierung und Erfassung an den Außengrenzen, dann ist der Schengen-Raum mit offenen Binnengrenzen in großer Gefahr“, sagte Nancy Faeser – und erhöhte damit abermals den Druck.

Auf Ebene der Bundesregierung scheint das bereits geklappt zu haben. Dass Faeser seit Ende April so optimistisch auftritt, liegt vor allem daran, dass ihr gelungen ist, woran Seehofer damals scheiterte: die deutsche Regierung hinter einer Position zu vereinen, die auf EU-Ebene gute Chancen hat.

Diese deutsche Position orientiert sich stark an den Vorschlägen der EU-Kommission. Deren Asyl- und Migrationspaket liegt seit fast drei Jahren vor. Ein wesentlicher Punkt darin: Jeder, der sich um Asyl in der EU bewerben will, wird schon an der Außengrenze in einem sogenannten Screening-Verfahren registriert. Wer aus einem Land kommt, aus dem nur wenige Schutzanträge bewilligt werden, durchläuft ein beschleunigtes Asylverfahren – und darf im Fall einer Ablehnung gar nicht erst einreisen.

Streit um die Verteilung

Einer der größten Streitpunkte der Reform ist der sogenannte Solidaritätsmechanismus – also die Frage, wie die Geflüchteten auf die EU-Mitgliedstaaten verteilt werden. Das regelt bislang die Dublin-Verordnung, die Teil des GEAS ist. Sie sieht vor, dass Geflüchtete in dem EU-Staat Asyl beantragen müssen, den sie zuerst betreten haben. Das sind vor allem die Mittelmeerstaaten wie Italien oder Griechenland – die die Regel deshalb als so ungerecht empfinden, dass sie sich darüber hinwegsetzen.

Doch alle Versuche, die Verteilungsfrage anders zu regeln, sind bisher gescheitert. Einer neuen Ordnung müssten auch Staaten wie Ungarn zustimmen, die sich bislang dagegen sperren. Aktuell gibt es schlicht keine funktionierenden Regeln. Und so verteilen sich die Geflüchteten meist auf die Länder, in denen sie am ehesten auf ein vergleichsweise faires Asylverfahren hoffen können. Dazu gehört beispielsweise auch Deutschland.

Deutschland macht Zugeständnisse

Bereit zu Zugeständnissen

Das dürfte einer der Gründe sein, weshalb Faeser die Reform so stark vorantreibt – und bereit ist, Zugeständnisse zu machen. In einem Prioritätenpapier des Bundesinnenministeriums heißt es, dass die Zustimmung Deutschlands zur GEAS-Reform nicht davon abhänge, sich mit allen Punkten durchzusetzen, sondern dass „am Ende die Gesamtbalance stimmen muss“.

Es sind ohnehin nur wenige Stellen in der deutschen Position, die von den EU-Vorschlägen abweichen. Ein Streitpunkt ist die Altersgrenze, die eine Ausnahmeregelung für Familien mit Kindern festlegt. Ihnen soll immer ein reguläres Asylverfahren zustehen – auch wenn sie aus Ländern kommen, aus dem sonst nur wenige Anträge bewilligt werden. Geht es nach der EU, soll die Ausnahme für Familien mit Kindern bis zwölf Jahren gelten. Deutschland will die Altersgrenze auf 18 Jahre hochsetzen. Damit steht es unter den Mitgliedstaaten ziemlich allein da – und dürfte es schwer haben, sich durchzusetzen.

Dass Deutschland zu so vielen Zugeständnissen bereit ist, löst auch Kritik aus. So schlossen sich mehr als 50 Organisationen zu einem gemeinsamen Statement gegen die deutsche Position zusammen, darunter die Caritas oder Brot für die Welt. Auch in der Grünen-Bundestagsfraktion ist der Ärger unter einigen Abgeordneten groß.

Noch ist nicht klar, ob sich die EU-Innenministerinnen und -Innenminister am 8. Juni einigen können. Dass in Spanien und Griechenland gerade Neuwahlen geplant werden, macht die Verhandlungen schwieriger. Trotzdem sagen viele, die sich mit dem Thema befassen: Es ist zwar sehr unsicher, ob die Reform gelingt, aber es ist wahrscheinlicher denn je. Wie das für Nancy Faeser ausgeht, die auch als Spitzenkandidatin für die SPD bei der Landtagswahl in Hessen im Oktober antritt, bleibt abzuwarten.