Beziehungs- und Europakrise auf Italienisch– Szene aus „Im Zentrum von Europa“ vom Piccolo Teatro aus Mailand Foto: Theater

Am Wochenende ist das im Stuttgarter Schauspielhaus stattfindende Festival „The Future of Europe“ mit einer Abenteuerreise zu Ende gegangen: Gezeigt wurden sechs Kurztrips durch die Befindlichkeiten eines vor sich hin taumelnden Kontinents.

Stuttgart - Merkel, Schäuble und sein Nachfolger im Amt, Finanzminister Olaf Scholz, hätten in den vergangenen Tagen keine Freude in Stuttgart gehabt. Bis Sonntagabend haben sich im Schauspielhaus Theatermacher aus neun Ländern mit Europa beschäftigt, in Inszenierungen und Performances, die von international besetzen Diskussionsrunden mit Wissenschaftlern und Publizisten flankiert wurden. Eine dieser Runden kehrte die bei uns übliche Perspektive um. Nicht von Deutschland nach Europa blickte sie, sondern von Europa nach Deutschland – und dass wir Teutonen nicht den besten Ruf genießen, legte der in eine Frage gekleidete Debattentitel nahe: „Streber, Motor, Kassenwart?“ Sollte aus diesen nüchternen Zuschreibungen je ein Kompliment zu lesen sein, dann ein zwiespältiges. Als sexy jedenfalls gelten Deutsche bei den Nachbarn nicht – und Merkel, Schäuble, Scholz mit ihrer Austeritätspolitik, die Südeuropa in die Armut treibt, schon gar nicht.

 

Und wo bleibt die Kunst? Geduld, sie kommt noch. Aber wer sich am Samstag dem Schauspielhaus näherte, wo das fünftägige Festival „The Future of Europe“ stattgefunden hat, blieb abermals im Gestrüpp der Tagespolitik hängen. Es zeigte sich allerdings nicht dornig abweisend, sondern bunt einladend auf der Wiese vorm Theater, die von „1000 Schmetterlingen für ein europäisches Stuttgart“ bevölkert wurden: in feinster Origami-Technik hergestellte Zitronenfalter, goldgelb wie die Sterne auf der Europaflagge und in den Rasen gepflanzt, als würden sie schweben und flattern. Urheber der ans Festival angedockten Verschönerungsaktion waren die Europafreunde von Pulse of Europe, die den Passanten das Angebot machten, dem Schmetterlingspapier ihre EU-Träume anzuvertrauen. Und siehe da: wieder nichts Erfreuliches für Berlin! „Ich wünsche mir einen Solidaritätsmechanismus zwischen stärkeren und schwächeren europäischen Ländern, analog zum Länderfinanzausgleich in der BRD“, stand auf einem der Schmetterlinge zu lesen, notiert in der sommerlichen Hoffnung, dass dieser Vision Flügel wachsen werden.

Rote Rosen aus Katalonien

Und nun zur Kunst, die – man ahnt es – beim Stuttgarter Theatertreffen niemals in Reinform auftrat: Politik war bei „The Future of Europe“ und der Frage, ob es für Europa in Gestalt der taumelnden EU überhaupt eine Zukunft gibt, immer dabei. Zwei Jahre lang haben Armin Petras und Klaus Dörr, der Intendant und sein Stellvertreter, das Festival mit Theatern aus Athen, Barcelona, Budapest, Istanbul, Lyon, Mailand, Moskau, Thessaloniki und dem ukrainischen Kherson vorbereitet. Telefonkonferenzen, Treffen, Workshops – und neben einer Reihe von Gastspielen sind auch zwei Produktionen herausgekommen, die eigens fürs Festival erarbeitet wurden. Zum einen „Europe speaks out!“, der Reigen mit Solo-Miniaturen, der das Treffen am Mittwoch eröffnete, zum anderen „6 x 20’ – A Trip through Europe“, der Abend, der am Wochenende zur Uraufführung kam. Wieder sind die Inszenierungen eigenständig in den Partnertheatern entstanden, wieder von Armin Petras als künstlerischem Leiter zu einem Strauß gebunden worden – und wieder in Form und Inhalt so überraschend vielgestaltig wie der Kontinent selbst. Bei dieser Europareise lässt sich nichts im Voraus berechnen.

Das Abenteuer beginnt in Barcelona. Das katalanische Nationaltheater zeigt „EUpheMythos“, eine Farce mit einem Titel, der nicht von ungefähr wie „Euphemismus“ klingt: Beschönigung, Verbrämung. Die EU als Großprojekt der Täuschung, sofern man den Staatenbund an seinen Idealen von Frieden, Freiheit, Gerechtigkeit misst – für die um Unabhängigkeit ringenden Katalanen geht der Betrug vor der eigenen Haustür los. „Zehn Millionen Menschen sprechen Katalanisch, aber die Sprache ist in der EU nicht anerkannt“, sagt ein Spieler, der als Geschenk rote Rosen mit nach Deutschland gebracht hat. Und wenn er die Wortspielerei des Titels fortsetzt und auf Englisch erklärt, dass Katalonien in „Spain“ liegt, „Spain like Pain and a S“ und das Ganze wie „Pain in the Ass“ klingt, hat man nicht nur die Gemütslage der Autonomisten erfasst, sondern auch den verzweifelten Witz, mit dem sie ihren Kampf führen und der auch den Festivalbeitrag prägt.

Deutsche Wertarbeit – auch beim Sex?

Doch um ihre Heimat geht es den Theaterleuten aus Barcelona nur am Rande. Ihr Historientrip führt zurück zum europäischen Ursprungsmythos, zu Zeus in Stiergestalt, der die Europa heißende Prinzessin aus Phönizien entführt, dem heutigen Syrien und Libanon. Schon setzt sich der Rodeo-Stier, aus einer meerblauen Hüpfburg emporragend, in Bewegung, auch in sexuelle. Er missbraucht das junge Mädchen, das schließlich als in wärmende Folie gehüllter Flüchtling auf dem Festland ankommt. „Auch in Zukunft werden die Menschen einen hohen Preis dafür bezahlen, diese Reise zu überleben“, sagt ein Spieler.

Die als unmenschlich gegeißelte EU-Flüchtlingspolitik spielte auch in den Beiträgen aus Griechenland und Italien eine Rolle, die sich – gemeinsamer Nenner – in dieser Frage von den anderen Mitgliedsländern im Stich gelassen fühlen. Nicht so politisch fielen die Arbeiten aus Frankreich und Deutschland aus. Sie näherten sich dem Kontinent spielerisch, mit Witz und – im Falle von „Birgit – EU Garantie“ aus Lyon – auch mit Esprit: Catherine und Niels, ein gutsituiertes Paar, haben sich in ihren Machtspielen bequem eingerichtet. Doch dann entgleiten ihnen die Salongespräche, die deutsche Waschmaschine kommt zur Sprache und Birgit, die deutsche Freundin des Paars. Satz für Satz wachsen sich die Wortgefechte zur Ehe- und Europakrise aus, weshalb man als Zuschauer unweigerlich an die virtuose Eskalationsdramaturgie von Yasmina Reza denkt. Das Dramolett stammt aber von Rémi de Vos und würde auch außerhalb des Festivals entzücken.

Personell anders, aber ebenfalls mit Augenzwinkern hüpft der Stuttgarter Beitrag daher: „Sterntaler“ in der Regie von Dominic Friedel, ein nicht mit Erwachsenen, sondern mit Kindern entwickeltes, geschriebenes und eben aufgeführtes Projekt. Eine Schulstunde parodierend, das Gelernte mit eurythmischer Gesten- und Gebärdensprache untermalend, sprechen sie über das Wesen einer Gemeinschaft, die ohne Regeln nicht funktionieren kann – und dann fallen, wie im eingangs vorgelesenen Grimm-Märchen vom „Sterntaler“, Sterne vom Himmel, die wie die EU-Sterne aussehen und Briefe aus der Zukunft transportieren. Geschrieben sind sie von den Erwachsenen, zu denen die Jungen und Mädchen heranwachsen werden. Briefe ans Ich also, von denen – auch wenn die Kids weltweite Roboterkriege in ihren Visionen nicht ausschließen – zumindest einer nicht dystopisch, sondern utopisch klingt. „Du kannst dich auf die Zukunft freuen“, liest ein Bub mit Kinderstimme vor.

Hoffen wir’s. Dass das Schauspielhaus als Gastgeber des Festivals nicht mit Profis aufgetrumpft, sondern auf der Bühne einen Stall von Kindern an die Macht gelassen hat, stimmt schon mal optimistisch.