Um seinen Roman zu schreiben, hat sich Eugen Ruge im Moskauer Hotel Metropol eingemietet, dem Schauplatz der Ereignisse. Foto: imago

Wie fühlt man sich, wenn man in Zeiten des stalinistischen Terrors in einem Moskauer Hotel auf sein Todesurteil wartet? Eugen Ruge beantwortet diese Frage in seinem Roman „Metropol“ eindrucksvoll mit der Geschichte seiner Großeltern.

Stuttgart - Den beiden ist man schon einmal begegnet. In Eugen Ruges großem Familien- und Geschichtsroman„In Zeiten des abnehmenden Lichts“ feiert Wilhelm seinen 90. Geburtstag, umsorgt von seiner Frau Charlotte. Beide haben als überzeugte Kommunisten in der DDR Karriere gemacht, nun steht der Mauerfall unmittelbar bevor. Umrauscht von Gratulationstumult, sinkt der alte Mann irgendwann in Altersdämmer und Auflösungsahnung zurück in seinen Ohrensessel und stimmt leise für sich, mit unbeabsichtigtem Tremolo in der Stimme die SED-Hymne an: „Die Partei, die Partei hat immer recht“: „So, aus Lenin’schem Geist / wächst, von Stalin geschweißt, / die Partei – die Partei – die Partei“.

Eugen Ruge hat in diesem 2011 mit dem Deutschen Buchpreisausgezeichneten Roman seine Familiengeschichte zum Medium der Zeitgeschichte gemacht und vorgeführt, wie die fiktionale Kunst der Perspektive ein genaues und gerechtes Bild von Ideologien, Brüchen und Wenden zerklüfteter Verhältnisse zu zeichnen vermag. Vielleicht erinnert sich der eine oder andere Leser noch daran, dass sowohl Wilhelm und Charlotte es tunlichst vermieden, über jene Zeit zu sprechen, in der Stalin seine Schweißarbeiten an Lenin’schem Geist vorgenommen hatte, die Dreißigerjahre, in denen es die beiden im Zuge des antifaschistischen Widerstands nach Moskau verschlagen hat.

Weniger als zwei Minuten pro Todesurteil

Was genau seine Großeltern in dieser Angelegenheit verstummen ließ, recherchiert Ruges neuer Roman „Metropol“. Er blättert ein dunkles Kapitel auf, dessen Quellen sich nicht im Familienalbum finden, sondern im Russischen Staatsarchiv für sozio-politische Geschichte in Moskau. Dort nämlich wird die Kaderakte seiner Großmutter verwahrt, die der Autor einsehen konnte in einer bürokratischen Prozedur, die bereits jenen kafkaesken Ton anschlägt, der den in den Dokumenten bezeugten Verwicklungen entspricht.

Viereinhalb Jahre haben seine Großeltern nach der Machtergreifung der Nazis in Moskau gelebt als Mitglieder des Geheimdienstes der Kommunistischen Internationale. Die Organisation, die revolutionäre Bewegungen und Parteien außerhalb der Sowjetunion unterstützen sollte, geriet wegen ihrer internationalen Ausrichtung und ihres hohen Ausländeranteils in den Jahren des Großen Terrors ins Fadenkreuz der stalinistischen Säuberungen.

Diese Geschichte erzählt der Roman, dessen Titel auf den Namen des Moskauer Hotels zurückgeht, in dem die Verdächtigten einquartiert wurden, bis ihnen der Prozess gemacht wurde. Oder eben auch nicht. Genau aus dieser Ungewissheit resultiert die Absurdität des Lebens, das Ruge aus einzelnen im Original abgedruckten Schriftsätzen rekonstruiert.

Von einem Tag auf den anderen konnte die bloße Bekanntschaft mit einer in Ungnade gefallenen Person bedeuten, selbst zum Volksverräter gestempelt zu werden und in die luxuriöse Vorhölle eingewiesen zu werden. Dort harren die ahnungslosen Delinquenten neben normalen Gästen ihrem Schicksal entgegen, unter dem gleichen Dach wie der Oberste Richter, der sich darüber den Kopf zerbricht, wie viele Todesurteile man seriös an einem Tag unterschreiben kann: Vierhundert geteilt durch zwölf Arbeitsstunden, macht siebenunddreißig in der Stunde, weniger als zwei Minuten pro Urteil.

Auch der Schriftsteller Lion Feuchtwanger, der als internationaler Beobachter den Schauprozessen beiwohnte, residierte im Hotel Metropol, direkt im Zimmer neben den Großeltern. In einer Radioansprache attestierte er Stalin, der gerade dabei war, in einer Orgie der Vernichtung die Macht an sich zu reißen, guten Humor: „Man begreift schnell, warum die Massen ihn nicht nur verehren, sondern lieben.“

Große Hoffnungen und menschenverachtende Lügen

Damit wäre man beim eigentlichen Thema dieses Buches angelangt, über die bekannten Fakten des Stalinismus hinaus: der Frage nämlich, was Menschen zu glauben fähig und zu glauben bereit sind. Wie in dem Vorgängerroman bewährt sich auch hier ein Erzählen aus der Figurenperspektive. Zur historischen Wahrheit gehören nicht nur die menschenverachtenden Lügen der inszenierten Schauprozesse, sondern auch die Hoffnungen, die junge Leute wie Ruges Großeltern vor dem Hintergrund der Entwicklungen in Deutschland in die Arme des Sowjetsystems getrieben haben: die Vision einer gerechteren Welt, in der die Besitzlosen nicht immer ärmer und die Besitzenden immer reicher würden, sondern die Arbeiterklasse die Macht übernommen hatte.

Doch täglich füllt sich das Hotel mit weiteren ehemaligen Weggefährten, die man plötzlich besser nicht mehr kennen sollte. Mit dem Falschen einmal getanzt zu haben, kann eines jener Todesurteile zur Folge haben, die der dicke Richter im Akkord zu unterschreiben hat, wenn er nicht gerade seine Impotenz durch das Aufspießen von prächtigen Schmetterlingen kompensiert. Auch durch seine Augen blickt man auf das Geschehen. Und während die einen so verzweifelt wie vergeblich darum kämpfen, ihren Glauben angesichts der sich verdichtenden Fakten nicht zu verlieren, erleuchtet den Hüter Gerechtigkeit der Glaube, an nichts zu glauben, außer an das, was ihm nützt.

Der Wahnsinn der Ereignisse, die gemütliche Bestialität der Akteure der Geschichte, erschließt sich in seinem Ausmaß nicht in Generalbegriffen. Was die schwindelerregenden Opferzahlen des stalinistischen Terrors wirklich bedeuten, entfaltet sich im Umweg über das Leben des Einzelnen. Warum Ruges Großeltern das ihre retten konnten, bleibt offen. Was aus ihrem Glauben an eine bessere Gesellschaft später in der DDR wurde, davon handelt ein anderer großer Roman.

Eugen Ruge: „Metropol“. Roman. Rowohlt Verlag. 432 Seiten, 24 Euro.