Protestierende werden die Nachrichten aus Brüssel freuen – nicht überall wird es aber tatsächlich was ändern. Foto: dpa

Die EU will den Stickoxid-Grenzwert von 50 Mikrogramm pro Kubikmeter in Deutschland tolerieren. In manchen Städten rüttelt das am Fahrverbot.

Brüssel - Die Chancen der Umwelthilfe, vor Gericht neue Fahrverbote in deutschen Städten durchzusetzen, sind gesunken. Hintergrund ist, dass die Bundesregierung aus Brüssel keinen Gegenwind bekommen wird, wenn sie jetzt dafür sorgt, dass Fahrverbote erst ab einem Jahresmittelwert von 50 Mikrogramm Stickoxid in der Luft verhältnismäßig sind. In Dutzenden von deutschen Städten können Autofahrer aufatmen.

Was plant die Bundesregierung?

Union und SPD sind sich einig, dass sie das Bundesimmissionsschutzgesetz ändern wollen. Sie wollen dafür sorgen, dass Fahrverbote künftig erst ab einem Jahresmittelwert von 50 Mikrogramm Stickoxid verhältnismäßig sind. Dies bedeutet nicht, dass die EU-weit verbindlichen Grenzwerte der Luftqualitätsrichtlinie außer Kraft gesetzt werden. Der Grenzwert liegt bei 40 Mikrogramm Stickoxid. Dabei bleibt es auch. Die Bundesregierung will lediglich die Gefahr bannen, dass bei geringen Überschreitungen gerichtlich Fahrverbote durchsetzbar sind. Sie will erreichen, dass das drastische Instrument zur Verbesserung der Luftqualität, also die Fahrverbote, in vergleichsweise gering belasteten Städten nicht zum Einsatz kommt.

Welche Städte dürfen hoffen?

Klar ist, dass bereits verhängte Fahrverbote von der Gesetzesänderung nicht betroffen sind. Auch Städte wie Stuttgart und München, wo die Grenzwerte im Jahresmittel 2018 noch massiv überschritten wurden, dürften nicht profitieren. In Stuttgart lag der Jahresmittelwert 2018 bei 71 Mikrogramm, München (66), Kiel (60). Bundesweit gibt es aber 36 Städte, in denen laut vorläufigen Zahlen des Umweltbundesamtes aus der vergangenen Woche der EU-Grenzwert von 40 Mikrogramm im Jahresmittel überschritten wurde. In diesen Städten gibt es teils bereits Fahrverbote, in vielen Städten drohen neue oder schärfere Fahrverbote in nächster Zeit. Zehn Städte, darunter neben den genannten auch Köln, Hamburg, Düsseldorf und Dortmund, hatten 2018 Werte von über 50 oder darüber. Da die Werte von Monat zu Monat sinken, weil ältere Diesel ausgemustert werden und die Flotten auf saubere Modelle umstellen, gibt es in vielen dieser Städte die Hoffnung, dass der Wert von 50 Mikrogramm schon in diesem Jahr im Jahresmittel unterboten wird. Indes schaffte es am Mittwoch Wiesbaden, mit anderen Mitteln ein Fahrverbot zu verhindern – mit einem Maßnahmenpaket für bessere Luft wurde die Stickoxid-Belastung ausreichend gesenkt.

Was bedeutet das für den Südwesten?

Für Baden-Württemberg bringt die Gesetzesänderung womöglich die Wende für Reutlingen, wo der Wert 2018 bei 53 lag, Heilbronn (52) und Ludwigsburg (51). Der baden-württembergische Europaabgeordnete Norbert Lins, der in Brüssel auch eine Überprüfung der Messstellen-Kriterien durchgesetzt hat, geht davon aus, dass die Gefahr für diese Städte gebannt ist: „Diese Städte werden mit den bereits eingeführten Maßnahmen die vorgeschriebenen Luftgrenzwerte im nächsten Jahr erreichen.“

Welche Städte würden profitieren?

Es gibt 26 Städte, bei denen das Umweltbundesamt 2018 Jahresmittelwerte zwischen 40 und 50 Mikrogramm gemeldet hat. Diese Städte wären vermutlich aus dem Schneider, wenn die Gesetzesänderung greift. Dazu zählen etwa Backnang, Freiburg, Tübingen, Leonberg und Mannheim.

Ab wann gilt das neue Gesetz?

Das Gesetz muss noch im Bundestag und Bundesrat verabschiedet werden. Dies kann aber relativ schnell gehen und könnte bis zur Sommerpause über die Bühne sein. In der Koalition gibt es Einvernehmen. Selbst Umweltministerin Svenja Schulze (SPD) steht hinter dem Vorhaben.

Warum darf Brüssel mitreden?

Grundsätzlich ändert sich nichts daran, dass Deutschland die Grenzwerte einhalten muss. Auch die Klage der EU-Kommission gegen Deutschland vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) wegen chronischer Überschreitung der Grenzwerte ist davon nicht berührt. Die Kommission schreibt den Mitgliedstaaten aber keine Instrumente vor, um die Grenzwerte einzuhalten. Auch Fahrverbote wurden von Brüssel nie angeordnet. Daher steht es der Bundesregierung frei, Maßnahmen zur Verbesserung der Luftqualität zu variieren, wie sie dies nun mit der Änderung des Bundesimmissionsschutzgesetzes vorhat. Deutschland ist aber grundsätzlich gut beraten, zu prüfen, ob Gesetzesvorhaben möglicherweise auf den Widerstand der Kommission stoßen, weil sie etwa gegen Regeln des EU-Binnenmarktes verstoßen.

Hätte die Kommission die Gesetzesentschärfung verhindern können?

Nicht direkt. Sie hätte vorerst nur dafür sorgen können, dass das Gesetz drei Monate auf Eis liegt. Dabei hätte sie dann üblicherweise in einer Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung ihre Bedenken formuliert. Dies wäre ein Alarmsignal an die Bundesregierung gewesen und hätte auf weitere Schritte aus Brüssel hingedeutet: Schlimmstenfalls wäre dies die Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens. Die Kommission hat aber einen anderen Weg gewählt: Sie schickt lediglich einige Nachfragen an die Bundesregierung und erhebt ansonsten keine Einwände dagegen, dass das Gesetz beschlossen wird.