Günther Oettinger warnt vor einer Wagenburgmentalität Europas. Foto: AFP

Der EU-Kommissar und frühere Ministerpräsident Günther Oettinger beleuchtet im Landtag Europas „instabile“ Nachbarschaften. Und wirbt für eine Hinwendung zu Afrika.

Stuttgart - Die CDU-Fraktion hat ihn eingeladen, und es war am Dienstagabend ein warmherziger Empfang der Christdemokraten im baden-württembergischen Landtag für EU-Kommissar und Ex-Ministerpräsident Günther Oettinger, der zum Thema Europa und Afrika referieren sollte. „26 Jahre Landtagsmitglied, 14 Jahre Fraktionsvorsitzender und fünf Jahre Ministerpräsident – willkommen zurück in der Heimat“, begrüßte ihn der CDU-Fraktionschef Wolfgang Reinhart. Viele im Saal seien dem Gast aus Brüssel „noch besonders verbunden“.

Oettinger lobte die gelungene Parlamentsrenovierung („ein Arbeitsplatz, der dem Land gerecht wird“) und stürzte sich sogleich in die geopolitische Situation von Europa, das er als einen der Kontinente mit der höchsten Lebensqualität schätzt, der aber wie kein anderer Erdteil von „schwierigen“ und „instabilen“ Nachbarn in wenigen Flugstunden Entfernung umzingelt sei. Oettinger, der als EU-Kommissar für den Haushalt und das Personal zuständig ist, nannte in erster Linie den Unruheherd Ost-Ukraine, der noch Kriegsgefahr und eine mögliche Fluchtwelle berge, die Türkei sowie das vom immensen Bevölkerungswachstum betroffene Ägypten, das jede Woche 7000 neue Bürger zähle. Diese Regionen bräuchten „unsere höchste Aufmerksamkeit“.

Stabilität für Afrika

Und natürlich Afrika, der Kontinent, der seine Bevölkerungszahl laut UN bis 2050 mehr als verdoppeln wird – auf 2,4 Milliarden Einwohner. „Wenn wir die Stabilität nicht dorthin exportieren, werden wir die Instabilität importieren“, sagt Oettinger. Eine Wagenburgmentalität werde der EU allerdings nicht helfen, man könne Europa nicht abschotten, der beste Grenzschutz sei eine Entwicklung Afrikas. „Heute wollen die unter 30-Jährigen weg aus Afrika, aber wenn sie eine Perspektive erhalten, ein Licht am Ende des Tunnels sehen und jedes Jahr kleine Fortschritte, dann werden sie bleiben“, glaubt Oettinger.

Sauberes Wasser, Sicherheit, ein Obdach, Handwerk, Bildung und Gesundheitsvorsorge – dies seien Grundbedürfnisse, die auf dem Kontinent zu erfüllen seien. Seit zehn Jahren habe die EU eine Afrika-Strategie, mit der sie auf diese Ziele hinarbeite. Dabei plädierte Oettinger dafür, nicht zu hohe Erwartungen an den Kontinent zu stellen. „Irgendwann“ werde die Demokratie auch in afrikanischen Länder ankommen, aber zwischenzeitlich sei es so, „dass wir mit Monarchen oder Diktatoren – solange sie keine Menschenschänder sind – zusammenarbeiten müssen“.

Anregungen an die Wirtschaft

Eine Hinwendung durch Entwicklungshilfe aber auch Investitionen regte Oettinger an. Die Chinesen seien längst auf „egoistische“ Weise in Afrika engagiert. Das Amerika Donald Trumps sei auf dem Rückzug und diese Lücke könnten die Europäer nutzen. Für die heimische Wirtschaft tue sich ein immenser Markt in Afrika auf, der fast alle Branchen umfasse: Schienenfahrzeuge, Autos, Infrastruktur, Wasserversorgung, Abfallentsorgung und Recycling, Bekleidung sowie Industrieanlagen zur Nahrungsmittelerzeugung.

Die Patenschaft des Landes zuBurundi sollte gepflegt werden, meinte Oettinger. Auch jungen Leuten empfahl er einen Blick nach Afrika. Warum nicht das EU-Förderprogramm Erasmus-Plus, das jungen Leuten einen Studienaufenthalt oder ein Praktikum in 33 Ländern gestattet, nicht auch auf Afrika ausdehnen, fragte er: „Mit Erasmus nach Burundi oder Kenia – und dann zurück ins Remstal. Das entspricht doch unserer Weltoffenheit.“

Eine Milliarde EU-Geld für Flüchtlinge in der Türkei

Weniger der Zustrom von Afrikanern, sondern die Flüchtlinge aus Ländern wie Syrien oder Afghanistan brennen dem EU-Kommissar derzeit allerdings auf den Nägeln: Er müsse jetzt eine Milliarde Euro für die Versorgung von 1,1 Millionen Flüchtlingen in der Türkei „locker machen“, sagte Oettinger, dabei beherbergt das Land am Bosporus dreimal soviele Flüchtlinge. Überhaupt trügen Anrainerstaaten der Krisenregion Syrien eine der Hauptlasten – die kleinen Länder Libanon und Jordanien hätten jeweils rund eine Million Flüchtlinge aufgenommen: „Wenn sie Lebensgefahr spüren oder Hungersnot leiden, werden sie nach Europa kommen wollen.“