Ex-Ministerpräsident Günther Oettinger sprach vor heimischem Publikum. Foto: dpa

Starker Auftritt in Stuttgart: EU-Kommissar Oettinger will den Westbalkan in die EU holen, mokiert sich über süditalienische Beamte und glaubt, die Badener hätten zum Elsass gewollt, hätte man sie gefragt.

Stuttgart - Vor heimischem Publikum läuft der frühere Ministerpräsident von Baden-Württemberg und jetzige EU-Haushaltskommissar Günther Oettinger stets zur Höchstform auf. Am Montagabend tat er dies bei einer Europa-Diskussion in der von seinem früheren Regierungssprecher Christoph Dahl geleiteten Baden-Württemberg-Stiftung in Stuttgart – ein wahres Heimspiel. Oettinger ging nur kurz auf die aktuelle Krise ein. Er erwarte, dass spätestens Mittwoch, wenn das EU-Parlament seinen Präsidenten gewählt habe, sich auch die anderen wichtigen Personalfragen – allen voran die Besetzung des Amtes des Kommissionspräsidenten, des „europäischen Bundeskanzlers“ – geklärt haben. „In China wird der Präsident auf Lebenszeit ernannt. In der Demokratie ist das schwieriger, aber es wird klappen“, meinte Oettinger. Im übrigen plädierte er für Geduld – die Bundesregierung habe sechs Monate gebraucht, um sich zu formieren.

Lücke nach Griechenland, Bulgarien und Rumänien soll geschlossen werden

Aufhorchen ließen das Publikum aber Oettingers Ausführungen zur Weiterentwicklung der Europäischen Union. „Zur Vollendung der EU gehört die Aufnahme der Staaten des Westbalkans“, sagte Oettinger. „Dies ist ein Tabu in Deutschland, über das weder die Parteien noch die Medien sprechen.“ Er sei aber überzeugt davon, dass zur Vollendung Europas in zehn Jahren die sechs Staaten des Westbalkans und in 20 Jahren die Ukraine aufgenommen werden sollten. Was den Balkan anbelange, müsse „die Lücke“ in der EU zu Griechenland, Bulgarien und Rumänien geschlossen werden.

Oettinger widersprach der von Moderatorin Annette Gerlach (Arte) geäußerten Ansicht, dass das „Tandem“ Deutschland-Frankreich entscheidend sei als Motor für die EU. Richtig beobachtet sei aber, dass Berlin beim Thema Schuldenabbau und Haushaltsdisziplin „eher“ nördlich ticke und Paris „eher“ südlich. Die vielen neu aufgenommen Staaten Zentraleuropas ließen sich aber nicht in ein Nord-Süd-Schema pressen und wollten weder von Frankreich noch Deutschland dominiert werden: „Die erwarten bei der Kohäsionspolitik, der Infrastruktur, den Außengrenzen und dem Umgang mit Russland, dass wir auf sie hören.“ Im übrigen sei es „nicht in Ordnung“, dass Deutschland immer noch keine Antwort auf die vielen von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron gemachten Vorschläge zur Erneuerung der EU gemacht habe. Vom im Koalitionsvertrag von Union und SPD versprochenen „neuen Aufbruch für Europa“ spüre er im übrigen nichts. „Was Bundestag und Landtage dazu leisten, das entspricht meinen Erwartungen in keiner Form.“

Die Polen „kratzen“ jeden Euro aus den Förderprogrammen

Etwas Einblick in die Arbeit eines EU-Kommissars gab Oettinger auch: Er verneinte die Frage, ob er als deutscher EU-Kommissar die Interessen seiner Nation vertrete, er sei für die Belange aller Europäer zuständig: Aber es sei schon so, dass alle EU-Kommissionspräsidenten, unter denen er diente – sei es Jose Manuel Barroso oder Jean-Claude Juncker – ihn gelegentlich gefragt hätten, wo denn bei bestimmten Fragen „die rote Linie“ der Deutschen sei. Das habe er beantworten können. Auch berichtete Oettinger von gewissen Diskrepanzen in der EU, beispielsweise bei der Nutzung des Kohäsionsfonds, aus dem finanzielle Unterstützung an schwächere Regionen fließt. In welchem Maße das geschehe, hänge auch stark von der Effektivität der nationalen Verwaltungen ab. „Die Polen sind bei der Nutzung der EU-Förderprogramme sehr effektiv, die kratzen da jeden Euro raus.“ Ganz anders sehe das im Mezzogiorno, also Süditalien, aus. Da würden viele Fördergelder gar nicht abgerufen, weil die Verwaltung die Förderanträge nicht stemmten: „Südlich von Rom sind die Beamten entweder nicht da oder nicht arbeitswillig.“

In ihrem Bekenntnis zu und ihrem Glauben an Europa waren sich alle Diskutanten – die französische Berlin-Korrespondentin Pascale Hugues, die deutsch-französische Abgeordnete Sabine Thillaye und die Musikband Zweierpasch – einig. Oettinger äußerte sich gerade zu schwärmerisch über die engen Bande zwischen Frankreich und Baden-Württemberg, berichtete von der „immer vollen“ Stadtbahn von Kehl nach Straßburg und glaubt an die Zukunft einer Oberrheinpartnerschaft. Im übrigen nehme er an, „dass die Badener damals fürs Elsass gestimmt hätten“ und nicht für Baden-Württemberg, wenn man sie danach gefragt hätte, meinte der in Stuttgart gebürtige Oettinger augenzwinkernd.