Aus Solidarität ist vor dem Europäischen Parlament in Straßburg neben den EU-Mitgliedsflaggen die ukrainische Flagge aufgezogen. Foto: IMAGO/Future Image/IMAGO/Dwi Anoraganingrum

Auf dem EU-Gipfel in Brüssel wird entschieden, ob die Ukraine und die Republik Moldau den Kandidatenstatus bekommen. Dabei gilt es auch, die Westbalkan-Staaten nicht zu verprellen, die sich seit Jahren um eine Mitgliedschaft in der EU bemühen.

In Brüssel herrscht seit Tagen ungewöhnliche Geschäftigkeit. Der EU-Gipfel am Donnerstag soll auf keinen Fall in einer Blamage enden. Kurz vor Beginn wird aber demonstrative Entspannung signalisiert. Ein „vollständiger Konsens“ zeichne sich ab, sagte der französische Europaminister Clément Beaune nach einem Vorbereitungstreffen mit seinen EU-Kollegen. Der luxemburgische Außenminister Jean Asselborn rechnet mit „großer Einstimmigkeit“ auf dem Gipfel.

 

Eine historische Entscheidung der EU

Als historisch wird die Entscheidung bezeichnet, der Ukraine und der kleinen Republik Moldau den Kandidatenstatus zu verleihen und damit den Weg in Richtung Europäische Union weit aufzustoßen. Die Grundlage für den Durchbruch wurde in Kiew gelegt, als sich Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) bei seinem Besuch vergangene Woche festlegte: „Deutschland ist für eine positive Entscheidung zugunsten der Ukraine.“ Dafür wolle er sich bei dem EU-Gipfel gemeinsam mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron und dem italienischen Regierungschef Mario Draghi starkmachen.

Ein Rest Unsicherheit bleibt, denn die Entscheidung muss am Donnerstag von allen 27 EU-Mitgliedstaaten einstimmig getroffen werden. Ein banger Blick geht vor allem in Richtung Ungarn, das zuletzt bei den Sanktionen gegen Russland in letzter Sekunde immer wieder mit Blockaden gedroht hatte. Premierminister Victor Orbán macht aus seiner Nähe zu Moskau kein Hehl.

Skepsis bei manchen EU-Staaten

Skepsis herrscht aber auch in anderen Staaten. Vor allem die Niederlande, Dänemark und Portugal üben Kritik und haben dafür gute Gründe. Noch nie hat die Friedensgemeinschaft EU einem Land im Krieg eine Beitrittsperspektive gegeben, und das im Rekordtempo. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte erst Ende Februar die Aufnahme seines Landes beantragt, vier Tage nach dem russischen Angriff.

Als große Probleme gelten auch die grassierende Korruption in der Ukraine, die mangelnde Rechtsstaatlichkeit und unzureichende demokratische Strukturen. Der Europäische Rechnungshof hatte der Ukraine erst im September Versagen im Kampf gegen die Großkorruption attestiert und Seilschaften „zwischen Oligarchen, hochrangigen Beamten, Politikern, der Justiz und staatseigenen Unternehmen“ beklagt.

All diese Punkte sind natürlich in der EU bekannt. Doch das politische Zeichen an die Ukraine – und vor allem an Moskau – erscheint Brüssel in diesem Fall wichtiger.

Der Kandidatenstatus ist kein Automatismus

Immer wieder betont wird, dass der Kandidatenstatus eines Landes keinesfalls automatisch den Beitritt zu dem exklusiven Club bedeute. So steht die Türkei seit 1999 auf der Warteliste, ist im Moment aber weiter von der Aufnahme entfernt als je zuvor. Auch gilt als sicher, dass es für die Ukraine und Moldau kein beschleunigtes Verfahren geben wird. Das bedeutet, dass beide Länder ein gewaltiges Programm abarbeiten müssen, bevor die EU über die Aufnahme der eigentlichen Beitrittsverhandlungen entscheiden kann. So müssen vor allem Fragen der Rechtsstaatlichkeit und Demokratie sowie der Kampf gegen die Korruption geklärt werden.

Das Problem des Westbalkans

Die EU verschärft mit dem Angebot an die Ukraine jedoch ein anderes Problem. Die Länder des Westbalkans warten seit Jahren im EU-Vorzimmer und hoffen endlich auf Einlass. Sie befürchten nun, angesichts der Mammutanstrengung in Sachen Ukraine einfach in Vergessenheit zu geraten. Aus diesem Grund findet vor dem eigentlichen EU-Gipfel am Donnerstag noch ein Spitzentreffen mit Serbien, dem Kosovo, Nordmazedonien, Albanien, Montenegro und Bosnien-Herzegowina statt. Alle sechs Länder befinden sich in unterschiedlichen Phasen des Annäherungsprozesses an die EU. „Der Westbalkan ist wichtig für die EU, und die EU ist wichtig für den Westbalkan“, betonte Ratspräsident Charles Michel in seiner Einladung. Bundeskanzler Scholz war bereits vor einigen Tagen durch den Westbalkan gereist, um die dortigen Staaten der Solidarität der EU zu versichern.

Russland destabilisiert die Region

Brüssel ist sehr daran interessiert, die Länder nicht vor den Kopf zu stoßen. Denn es besteht die Gefahr, dass sich die enttäuschten Regierungen dann in die Arme Russlands begeben könnten. Moskau versucht seit Jahren gezielt, den eigenen Einfluss zu vergrößern.

Wie groß die Unzufriedenheit auf dem Westbalkan mit dem EU-Beitrittsverfahren ist, zeigt eine Boykottdrohung aus Serbien, Albanien und Nordmazedonien. Die drei Staaten wollten dem Westbalkangipfel fernbleiben, um damit gegen die anhaltende Blockade Bulgariens gegen den Beginn von EU-Beitrittsgesprächen mit Nordmazedonien und Albanien zu protestieren. Die bulgarische Regierung pocht darauf, zuvor Fragen der Geschichte und Sprachstreitigkeiten zu klären. Am Mittwoch gab der albanische Ministerpräsident Edi Rama dann Entwarnung. „Wir werden am EU-Rat teilnehmen“, schrieb er auf Twitter.