Die Rechtsanwältin Anna Ioannidou berät zwei Arbeitnehmerinnen. Foto: Lichtgut/Leif Piechowski

Die Zuwanderung aus der EU steigt – und damit auch die Zahl derer, die von ihren Arbeitnehmern ausgebeutet werden. Denn Zuwanderer sind oft vermeintliche leichte Opfer.

Stuttgart - Seit zwei Jahren hat er keinen Urlaub mehr gehabt. Zwar stehen ihm laut Vertrag etwas mehr als 20 Tage im Jahr zu, doch die muss er nicht nehmen. Er lässt sie sich vom Arbeitgeber ausbezahlen, sagt Dimitrios G. (Name von der Redaktion geändert). Zwei Jahre ohne Urlaub – wie schafft man das? „Ich bin eine starke Person, ein richtiger Mann“, sagt Dimitrios G. und seine Stimme strotzt – nicht vor Stolz, sondern vor Ironie. Denn er verzichtet nicht freiwillig auf den Urlaub, sondern aus wirtschaftlicher Not. Die 1700 Euro netto, die er monatlich verdient, reichen kaum für seinen Lebensunterhalt und dafür, seinen Sohn zu unterstützen, der noch in Griechenland lebt.

Der 53-jährige geschiedene Grieche ist vor fünf Jahren nach Deutschland gekommen, da die Finanzkrise in seiner Heimat die ersten Auswirkungen zeigte. Er fand einen befristeten Job als Koch bei einer Fast-Food-Kette. Parallel besuchte er einen Deutschkurs und bewarb sich um eine Stelle in seinem eigentlichen Beruf als Maschinenbauingenieur. Doch ohne Erfolg. Stattdessen arbeitet er seit nunmehr zwei Jahren bei einem Paketdienst in Stuttgart und der Region. Ohne Urlaub. Zudem muss Dimitrios G. häufig Überstunden machen – die nicht bezahlt oder ausgeglichen werden. „Eigentlich dauert mein Arbeitstag von 5.30 bis 17 Uhr. Oft aber muss ich bis 19 Uhr arbeiten.“

Arbeitgeber verletzt Sorgfaltspflicht

Die Stuttgarter Rechtsanwältin Anna Ioannidou kennt Dimitrios G. gut. „Ich könnte gegen den Arbeitgeber zunächst disziplinarisch vorgehen, das heißt, ich könnte ihn bei den jeweiligen Berufsständen oder Gewerbeämtern anzeigen, weil er seine Sorgfaltspflichten als Arbeitgeber verletzt.“ Dann müsse der Arbeitgeber eine „ordentliche Strafe“ bezahlen, weil er den Urlaub ausbezahlt, anstatt den Arbeitnehmer anzuweisen, seinen gesetzlichen Urlaub zu nehmen. Außerdem muss ein Arbeitnehmer – sofern eine Regelarbeitszeit vereinbart ist – nicht länger arbeiten oder nur gegen zusätzliche Vergütung. Laut Arbeitszeitgesetz darf die tägliche Arbeitszeit maximal zehn Stunden betragen.

Doch Dimitrios G. hat Angst, sich zu wehren. Wie viele EU-Bürger ist er auf die Arbeitsstelle angewiesen. Oft fehlen ihnen die Deutschkenntnisse, und sie wissen nicht, an wen sie sich wenden sollen. Seit 2013 gibt es die Beratungsstelle Faire Mobilität in Stuttgart, ein Projekt des Deutschen Gewerkschaftsbunds. Dort erhalten Beschäftigte in ihren Landessprachen arbeits- und sozialrechtliche Unterstützung. Zwei Mitarbeiterinnen berieten im vergangenen Jahr 855 EU-Bürger. Im Jahr 2015 waren es noch 634. Die positive wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland ist dafür verantwortlich, dass die Zuwanderung aus der EU steigt. Zudem trägt die Wirtschafts- und Finanzkrise in Griechenland, Italien, Portugal und Spanien dazu bei, dass die Zuwanderungszahlen weiterhin steigen. So lebten im Jahr 2016 78 198 EU-Ausländer in Stuttgart (2011: 62 767), davon waren 66 375 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte (2011: 50 207).

Die Beratungsstelle muss aus Kapazitätsgründen Leute abweisen

Bedarf an mehr Personal bestehe, sagt Stanislava Rupp von der Beratungsstelle. Das sei aber für das bundesweite Projekt mit sieben Beratungsstellen, das das Bundesministerium für Arbeit und Soziales finanziert, nicht vorgesehen. Manchmal müsse man gar Ratsuchende abweisen.

Das Hilfsangebot reicht von Gesprächen, in denen EU-Bürger über ihre Rechte oder den Mindestlohn aufgeklärt werden, bis zu Vermittlungsgesprächen mit Arbeitgebern. „Viele Betroffene wenden sich an uns, weil sie ihren Lohn nicht erhalten. Dann sind sie finanziell in einer Notlage“, sagt Rupp. Es bringe ihnen nichts, dass sie in drei bis vier Monaten vor Gericht gewinnen könnten. „Sie brauchen eine außergerichtliche, kurzfristige Lösung.“ Ausbeutung sei in manchen Branchen besonders ausgeprägt. Außer dem Baugewerbe stächen Gebäudereinigung, Schlachtindustrie, Pflege, Hotel- und Gaststättengewerbe hervor. Die Rechtsanwältin Ioannidou findet deutliche Worte: „Die Ausbeutung von Menschen in der Not ist niederträchtig und verachtenswert. Wir leben in der reichsten Stadt Deutschlands, und wir haben mitten in unserer Stadt einen Sklavenhandel.“ Maria L. (Name von der Redaktion geändert) arbeitet in Stuttgart als Reinigungskraft. Die 54-jährige Griechin ist geschieden und hat drei erwachsene Kinder – ein Sohn ist jedoch krank und braucht ihre finanzielle Unterstützung. Laut Vertrag muss sie täglich vier Stunden arbeiten, die Realität sehe häufig anders aus: „Im Monat arbeite ich zwei Wochen lang zehn Stunden täglich.“ In Urlaubszeiten könnte es auch einen Monat lang so gehen. Die Überstunden bekommt sie ausgezahlt. „Ich habe nichts dagegen, mehr zu arbeiten – ich scheue die Arbeit nicht.“ Aber sie wolle einen entsprechenden Arbeitsvertrag. Da Maria L. auf dem Papier eine Teilzeitbeschäftigung hat, zahle der Arbeitgeber weniger Sozialabgaben, erklärt Ioannidou. „In der Regel ist es so, dass die Überstunden auf dem Lohnzettel gar nicht erst erscheinen.“ Die Folgen: Das mehr verdiente Geld wird nicht versteuert, und die Arbeitnehmer erhalten weniger Arbeitslosengeld I. Maria L. beklagt zudem, dass sie von ihrem Chef schlecht behandelt werde. Er werfe ihr vor, nicht gründlich genug zu putzen, drohe, ihr zu kündigen, und versetze sie in Angst. „Mit den deutschen Kollegen geht er anders um“, sagt Maria L. Demnächst endet ihr Arbeitsvertrag. Maria L. bangt nun, ob er verlängert wird.

„Mit den deutschen Kollegen geht der Chef anders um“