Viele haben es nicht für möglich gehalten – die Briten stimmten vor knapp zwei Jahren für den Brexit. Noch immer ist nicht geregelt, wie der Austritt geregelt werden soll. Foto: dpa

Die Warnungen vor einem harten Brexit werden immer lauter. Die EU berät in Brüssel die neuen Vorschläge aus London. Viel Hoffnung auf eine rechtzeitige Einigung gibt es aber nicht.

Stuttgart - Der Brexit rückt näher und noch immer gibt es keinen endgültigen Plan, wie die Trennung der EU von Großbritannien genau verlaufen soll. Am Freitag informiert EU-Chefunterhändler Michel Barnier die Europaminister der Länder dabei über den Stand der Verhandlungen mit der britischen Regierung. Geplant ist, die Gespräche mit London bis Ende Oktober abzuschließen, damit der Austrittsvertrag noch rechtzeitig vor dem Brexit Ende März kommenden Jahres von den Parlamenten beider Seiten ratifiziert werden kann.

Warnung vor einem harten Brexit

Inzwischen mehren sich die Stimmen, die vor einem unkontrollierten Brexit warnen. Der Internationale Währungsfonds (IWF) hat etwa ausgerechnet, dass Ausstieg der Briten ohne neue Handelsvereinbarungen mit der EU das Bruttoinlandsprodukt (BIP) der Staatengemeinschaft jährlich um rund 1,5 Prozent schmälern würde. Voll zum Tragen kämen die Auswirkungen wahrscheinlich in fünf bis zehn Jahren, führte der IWF aus.

Ernüchternde Studie des IWF

Die Studie zeige größere Nachteile eines sogenannten harten Brexit als andere Untersuchungen, erklärte der IWF. Das liege unter anderem daran, dass auch negative Auswirkungen durch die Unterbrechung von Zulieferketten berücksichtigt worden seien. Diese Verbindungen zwischen Industrieunternehmen seien besonders intensiv zwischen Großbritannien und Deutschland, so dass die Bundesrepublik die Folgen in diesem Zusammenhang besonders stark zu spüren bekäme. Wegen insgesamt besonders enger Wirtschaftsbeziehungen würde ein Brexit ohne Nachfolgevereinbarung aber Irland am meisten treffen, gefolgt von den Niederlanden, Belgien und Luxemburg. Brexit-Gewinner werde es wegen der engen Verbindungen zwischen Großbritannien und dem Euro-Raum nicht geben. Die konkreten Folgen für Großbritannien berechnete der IWF aktuell nicht.

Schwierige Situation in London

Zwar hat die britische Premierministerin Theresa May Pläne vorgelegt, wie ihr Land auf Dauer mit der Europäischen Union Handel treiben und zusammenarbeiten will, doch was nach dem Austritt wirklich geschehen wird, ist im Moment völlig ungewiss. Zumal Mays politische Zukunft mehr als ungewiss ist. Wir beantworten an dieser Stelle einige der wichtigsten Fragen:

Was schlägt May der EU vor?

Vor zwei Wochen wagte sich die Premierministerin nach langem Zögern aus der Deckung und verpflichtete ihr Kabinett auf eine offizielle Brexit-Verhandlungslinie: Kern ist eine gemeinsame Freihandelszone für Waren mit der EU. Dafür will sich London weiter an europäische Produktstandards halten. Zusammen mit einem komplexen Zollabkommen soll dies Warenkontrollen an den Grenzen zur EU unnötig machen und der Wirtschaft Ärger und Wartezeit ersparen. Doch will Großbritannien bei Dienstleistungen eigene Wege gehen und auch eigene Freihandelsabkommen mit Ländern wie den USA oder China schließen. Zudem sollen EU-Bürger nicht mehr ohne Weiteres einwandern können. Insgesamt bewegte sich May damit auf eine „weichere“ Variante des Brexit zu – das sehen auch viele in Brüssel.

Warum sieht die EU Mays Pläne skeptisch?

Mays Vorschlag für eine Freihandelszone klingt nach einer Art Binnenmarkt nur für Güter. Und das schließt die EU bisher aus. Ihr Mantra lautet: Die vier Freiheiten des Binnenmarkt gibt es nur im Paket, nämlich den freien Verkehr von Waren, Dienstleistungen, Kapital und die Freiheit der Bürger, zu leben und zu arbeiten, wo sie wollen. Dass sich May nur den freien Warenverkehr herauspicken, aber die Freizügigkeit beenden will, widerspricht der bisherigen roten Linie der EU. Wenn die EU an ihrem Modell festhält, dann funktioniert das ganze May-Modell nicht.

Kann Theresa May der EU noch weiter entgegenkommen?

Das ist im Moment eher unwahrscheinlich. Die Brexit-Hardliner im britischen Parlament haben zuletzt mit einer Reihe von Entscheidungen den Spielraum für May eingeschränkt und ihre für die EU bereits schwierigen Vorschläge noch schwieriger gemacht. May ließ es geschehen, weil sie um ihre politische Existenz bangt. Aus Zorn über ihren Plan sind Brexit-Minister David Davis und Außenminister Boris Johnson zurückgetreten, und vor allem Johnson macht nun kräftig Stimmung gegen May. Die Befürworter einer engen Bindung an die EU sind ihrerseits unzufrieden. Mays Position dazwischen ist extrem wackelig. So muss sich die EU entscheiden: Versetzt sie der Regierungschefin den Stoß in den politischen Abgrund? Oder überdenkt sie die eigenen roten Linien?

Wird die EU Theresa May weiter entgegenkommen?

Das ist im Moment nicht zu erwarten. EU-Diplomaten sagten vor einem Ministertreffen am Freitag, es sei gut, dass Großbritannien nun endlich einen Vorschlag habe und man werde ihn sich nun erläutern lassen. Aber Position beziehen werde man nicht. Denn in den Brexit-Verhandlungen gehe es vorerst um den Austrittsvertrag – nicht um die langfristigen Beziehungen, die die EU erst während einer knapp zweijährigen Übergangsphase nach dem Brexit vertraglich regeln will. Vorher will die EU nur eine luftige politische Erklärung – May hingegen braucht handfeste Zukunftsaussichten schon vor der Trennung.

Ist eine Einigung noch möglich?

Das Risiko eines ungeordneten Brexits ohne Vertrag wird immer größer. Die EU-Kommission hat jüngst alle Betroffenen gemahnt, sich besser auf ein solches „No-Deal-Szenario“ ohne Übergangsphase vorzubereiten, auch genannt „Sturz in den Abgrund“. Doch wollen beide Seiten Chaos für Bürger und Wirtschaft unbedingt vermeiden. Eine Einigung im vorgegebenen Zeitrahmen bis Oktober sei bei gutem Willen auch durchaus möglich, sagen Diplomaten.

Könnte es ein zweites Referendum geben?

Kommt es wirklich zum Kompromiss mit Brüssel, folgt die Frage, wie sich das britische Parlament dazu stellt. Angesichts der knappen Mehrheitsverhältnisse könnten sowohl die Brexit-Hardliner als auch die EU-freundlichen Konservativen einen Deal verhindern. Je länger das Patt im Parlament andauert, desto lauter wird der Ruf nach einem zweiten Referendum werden – nach der Brexit-Abstimmung von 2016. Oppositionsabgeordnete, aber auch Mitglieder aus Mays konservativer Fraktion fordern das. Noch sind aber sowohl die Regierung als auch Labour-Chef Jeremy Corbyn strikt dagegen.