Jürgen Zieger und Klaus Henning schauen beim Traditionsfest nach vorne. Foto: Horst Rudel

Beim traditionellen Schwörtag beschäftigen sich die beiden Hauptredner mit Perspektiven für die Zukunft. Die sehen nicht immer rosig aus.

Esslingen - Es sind sehr unterschiedliche Gefühle, die die beiden Hauptpersonen des Esslinger Schwörtags am Freitag im Evangelischen Gemeindehaus am Blarerplatz beim Blick in die Zukunft formuliert haben. Der Esslinger Ratschef Jürgen Zieger sprach bei der Traditionsveranstaltung zum Auftakt des Bürgerfests von wachsendem Unbehagen, „weil Politikverachtung und persönliche Egoismen auch hier in Esslingen Raum greifen, weil der Aufstieg autoritärer Nationalisten in Amerika und Europa und auch in unserer Republik deutlich zu spüren ist.“ Er stellte die Frage in den Raum: „Tun wir wirklich genug, um der sich abzeichnenden Gefahr eines autoritären Rückfalls in Europa entgegen zu wirken?“

Vom digitalen begleiter zum digitalen Partner

Der Zukunftsforscher Klaus Henning wiederum beschäftigte sich als Gastredner in seinem komplexen und spannenden Vortrag mit der „digitalen Transformation unserer Lebens- und Arbeitswelt“. Momentan finde die größte Kulturrevolution seit Gutenberg statt. Allerdings hätten zu viele Menschen diesen Knall noch nicht gehört. Die digitalen Begleiter seien dabei, sich zu eigenständig denkenden digitalen Partnern zu entwickeln. Das berge Gefahren, biete aber auch Möglichkeiten. Henning: „Wir haben die Chance, die digitale Transformation mit künstlicher Intelligenz verantwortlich zu gestalten, bevor es andere verantwortungslos tun. Noch haben wir Zeit dazu!“

Jürgen Zieger bemängelte, dass in der Gesellschaft und auch in Esslingen der soziale Zusammenhalt immer mehr abhanden komme. Gerade die Mittelschicht habe sich verändert. Habe früher das „Versprechen des Aufstiegs“ diese Menschen zusammengehalten, so sei es jetzt sei die Furcht vor dem Abstieg, die sie in die Hände von Parteien am rechten Rand treibe.

Früchte des Booms müssen besser verteilt werden

Angesichts dieser „fatalen Entwicklung“ und zur Sicherung der gesellschaftlichen Stabilität und des sozialen Friedens müssten „die Früchte des wirtschaftlichen Booms besser verteilt werden, damit die Mitte mehr von ihrer Leistung hat“. Wichtige Aufgaben der Stadt seien der Ausbau der Bildung und Weiterbildungsmöglichkeiten, höhere Investitionen in die Infrastruktur und – ganz vorrangig – die Linderung der Wohnungsnot.

Dass noch 2018 der neue Flächennutzungsplan beschlossen werden soll, sei ein kleiner Beitrag dazu. Allerdings brauche es nicht nur neue Flächen, sondern auch eine „Renaissance des sozialen Wohnungsbaus“. Esslingen leiste mit seinem Wohnraumversorgungskonzept einen wichtigen Beitrag zur Schaffung von bezahlbarem Wohnraum. In Esslingen könnten nur ein Viertel der neu entstehenden Wohnungen frei vermietet oder verkauft werden.

Eine klare Position hat Jürgen Zieger auch zum geplanten Neubau der Stadtbücherei. Er halte beide Standorte für machbar, werbe aber für einen Neubau an der Küferstraße und eine museale Nachnutzung des Bebenhäuser Pfleghofs. Er beklage nicht, dass es jetzt wohl zu einem gesetzlich legitimierten Bürgerentscheid über den Standort kommen werde.

Jürgen Zieger wörtlich: „Persönlich war ich aber noch nie – und werde es auch nicht werden –, ein Anhänger dieser Art von politischer Willensbildung. Solche Entscheidungen hinterlassen am Ende meistens viele Scherben, eine geteilte Bürgerschaft und keinesfalls mehr Konsens als ein Gemeinderatsentscheid.“ Er denke aber auch, „dass eine aufgeklärte Stadt so etwas aushaltern muss und auch kann.“