Fatma Aydemir erzählt in ihrem zweiten Roman „Dschinns“ eine ebenso intensive wie vielstimmige Familiengeschichte. Foto: dpa/Jens Kalaene

Fatma Aydemir stellt bei den Esslinger Literaturtagen Lesart ihren aktuellen Roman „Dschinns“ vor. Darin erzählt sie die Geschichte einer aus der Türkei nach Deutschland immigrierten Familie, in der lange vieles ungesagt blieb.

Sein Name ist Hüseyin und seine Geschichte beginnt ähnlich wie die vieler Männer seiner Generation. Anfang der 70er-Jahre war er aus der Türkei nach Deutschland gekommen in der Hoffnung, seiner Familie hierzulande eine sichere Existenz und etwas Wohlstand eher bieten zu können als in dem kurdischen Bergdorf, in dem er mit seiner Frau Emine gelebt hat. Dafür hat er sich krummgelegt, hat seinen Körper geschunden und wahrscheinlich auch seine Seele. Er hat seine Heimat zurückgelassen, um hier nie richtig anzukommen. Doch das kann man nur ahnen, weil einer wie Hüseyin über all das nie sprechen würde.

Das Schicksal vieler Arbeitsmigranten

Es ist seine Geschichte, die Fatma Aydemir in ihrem hoch gelobten und viel diskutierten Roman „Dschinns“ erzählt. Es ist aber auch die Geschichte von Hüseyins Familie – und die vieler Arbeitsmigranten, die einen ähnlichen Weg gegangen sind. Bei den Esslinger Literaturtagen Lesart stellt Fatma Aydemir ihren Roman an diesem Dienstag vor.

Wenn Fatma Aydemir die Geschichte von Hüseyin erzählt, dann weiß sie nur zu gut, wovon sie spricht. Sie wurde 1986 in Karlsruhe geboren, ihre Großeltern waren in den 70er-Jahren als türkische Gastarbeiter nach Deutschland gekommen, Aydemirs Eltern durften ihnen erst später, als Teenager, folgen. „Das ist eine sehr gängige Geschichte“, erzählt die Autorin in einem Interview. „Viele Gastarbeiter sind erst allein gekommen, wollten ein Jahr oder zwei bleiben, da hat man nicht gleich die ganze Familie mitgeschleppt. Erst als klar wurde, hier in Deutschland verdiene ich in ein paar Monaten so viel Geld, das könnte ich in der Türkei in vielen Jahren nicht verdienen, fiel die Entscheidung, die Familie nachzuholen.“ Was das für die Familien bedeutet hat, kann man nur ahnen. Oder noch besser: In „Dschinns“ (Hanser-Verlag, 24 Euro) nachlesen.

Der Titel von Aydemirs Roman macht neugierig: Im islamischen Glauben sind Dschinns Lebewesen, die gemeinsam mit den Menschen die Welt bevölkern, jedoch unsichtbar bleiben. Man nennt die „Cin“ auf Türkisch nur „die mit den drei Buchstaben“ – aus Angst, man könnte sie versehentlich rufen und werde sie dann nie mehr los. „Dschinns sind alles, was wir komisch finden, unnatürlich“, heißt es in Fatma Aydemirs Roman. Und sie selbst ist überzeugt: „Mit dem Schreiben kann man seine eigenen Dschinns zur Ruhe bringen. Der Kampf mit ihnen hört nie auf, das ist Teil des Lebens. Aber man kann Wege finden, um sich mit ihnen zu arrangieren.“

Mit seinem Leben hatte sich auch Hüseyin arrangiert. Nach 30 Jahren in der Fremde hat er Ende der 90er-Jahre endlich genug gespart, um sich den Lebenstraum zu erfüllen, für den er so lange geschuftet hatte: eine Eigentumswohnung in Istanbul. Dort will er leben, sobald sein jüngster Sohn die Schule hinter sich gelassen hat.

Warum gerade Istanbul sein Sehnsuchtsort ist, weiß er vielleicht selbst nicht so genau, schließlich war die Stadt am Bosporus für ihn nur eine Durchgangsstation auf dem Weg nach Deutschland. Doch nicht mal dieses kleine Glück darf Hüseyin lang genießen, denn just am Tag des Einzugs stirbt er an einem Herzinfarkt.

Die Autorin nimmt Kritik gelassen

Nun kann er nicht einmal mehr seiner Familie zeigen, wofür er sich und ihr so vieles zugemutet hatte. Eilends reisen die Angehörigen in die Türkei, um das Familienoberhaupt zu beerdigen. Und vieles, was – genau wie der Name der Dschinns – nie ausgesprochen wurde, wird plötzlich präsent. Manches erscheint in einem etwas anderen Licht, wenn die Autorin die Geschichte in sechs Kapiteln mit jeweils unterschiedlichem Duktus aus sechs verschiedenen Perspektiven erzählt: Hüseyin, seine Frau Emine und die vier Kinder Sevda, Hakan, Peri und Ümit kommen zu Wort.

Fatma Aydemirs Roman „Dschinns“ zählt zu den meistbeachteten und meistdiskutierten Romanen der jüngeren Zeit. Manche Kritiker hatten Mühe, sich mit der intensiven und oft unverblümten Sprache anzufreunden, andere monierten, die Autorin habe zu viele Themen gleichzeitig angesprochen. Fatma Aydemir nimmt solche Kritik gelassen – sie fragt sich zunächst, welche Geschichte sie selbst erzählenswert findet und was sie selbst gerne lesen würde. Im Übrigen sei es nicht ungewöhnlich, dass ein Roman viele Themen behandle. „Jeder historische Roman macht das“, hat Aydemir in einem Interview gekontert. „Aber wenn du eine Geschichte aus sechs verschiedenen Perspektiven erzählst, dann stecken eben sehr viele Aspekte drin.“

Fatma Aydemir bei der Lesart

Die Autorin
Fatma Aydemir wurde 1986 in Karlsruhe geboren. Heute lebt und arbeitet die Journalistin, Kolumnistin und Autorin in Berlin.

Die Bücher
2017 erschien der Debütroman „Ellbogen“, für den Aydemir den Klaus-Michael-Kühne-Preis und den Franz-Hessel-Preis erhielt. 2019 gab sie gemeinsam mit Hengameh Yaghoobifarah die Anthologie „Eure Heimat ist unser Albtraum“ heraus. Für ihren Roman „Dschinns“ (2022) erhielt sie den Robert-Gernhardt-Preis.

Die Lesung
Fatma Aydemir stellt ihren aktuellen Roman „Dschinns“ an diesem Dienstag, 22. November, um 19.30 Uhr im Esslinger Neckar Forum vor. Moderiert wird diese Lesart-Veranstaltung von Susanne Lüdtke.