Weihnachten rückt immer näher, und viele suchen noch händeringend nach passenden Präsenten für Freunde und Verwandte. Bekannte Esslinger Buchexperten und -liebhaber verraten, was sie zu frohen Fest verschenken oder – noch besser – selber lesen.
Manchmal kommt Weihnachten schneller als man denkt, und plötzlich wird einem bewusst, dass noch das eine oder andere Geschenk für Freunde und Verwandte fehlt. Ein gutes Buch ist immer eine Alternative. Unsere Zeitung hat Fachleute und bekennende Buch-Enthusiasten nach ganz persönlichen Lese- und Geschenkideen gefragt. Neben aktuellen Büchern geben sie auch Titeln eine Chance, die ein Wiederlesen in weihnachtlicher Ruhe verdient haben.
Margarete Teuscher, Rektorin der Esslinger Herderschule: Ich darf ein Buch empfehlen, das ich vor drei Jahren gleich mehrfach zu Weihnachten verschenkt habe. „Was wir scheinen“ von Hildegard Keller (Eichborn Verlag, 14 Euro). Die Autorin schreibt auf mehr als 500 Seiten in einer sehr menschlichen und nachvollziehbaren Weise über Hannah Arendt, die knapp 70-jährig einen letzten Urlaub im Tessin verbringt. Das Leben der Philosophin wird facettenreich, verständlich und sehr nah dargestellt. Beschrieben wird ihre Flucht aus Nazi-Deutschland, ihr Leben in den USA, der Eichmann-Prozess von 1961 in Jerusalem, bei dem Hannah Arendt als Journalistin dabei war. Hildegard Keller zeigt aber auch eine ganz andere Hannah Arendt – eine, die dichtete, witzig war, sich mit jungen Leuten gut verstand und die Ingeborg Bachmann kurzerhand zu Eiern mit Bacon einlud. Das ist Fiktion – aber geschrieben haben sich die beiden. Ein besonderer Clou gelingt Hildegard Keller, als sie Hannah Arendt die Tessiner Dichterin Alfonsina Storni kennenlernen lässt. Dieser Dichterin widmete Keller zuletzt ein zweibändiges Werk, das sie auf der Lesart vorgestellt hat: „Wach“ und „Frei“ (Edition Maulhelden) – meine diesjährige Weihnachtslektüre.
Petra Helmcke, Vize-Vorsitzende des Fördervereins der Esslinger Stadtbücherei: Er holt mit seinem neuen, unfassbar schönen Buch den Himmel auf Erden, die Sterne in unsere Herzen und legt uns die Welt zu Füßen: Raoul Schrotts „Atlas der Sternenhimmel und Schöpfungsmythen der Menschheit“ wiegt vier Kilogramm und kostet 148 Euro, ist aber eigentlich unbezahlbar. Die Lesart hat diesen außergewöhnlichen Autor nach Esslingen geholt mit seinem monumentalen Werk, für das er sieben Jahre lang gereist ist und geforscht hat. Ermöglicht wurde dieses ambitionierte Projekt von zwei Kulturstiftungen – und vom Hanser-Verlag. Mit Raoul Schrott taucht man ein in die Geschichten, die sich die vielen Völker dieser Erde im Laufe der Menschheitsgeschichte über die Sternenhimmel erzählt haben. Sterne waren vor Entstehung der Schrift die einzige Möglichkeit, Geschichten, Mythen und Termine über Jahrhunderte weiterzugeben. Selbst unser Kalenderjahr mit seinen zwölf Monaten ist darauf zurückzuführen. Raoul Schrott sagt: „Wer die Schöpfungsmythen der Menschheit kennen möchte, muss ihre Sternenhimmel verstehen.“ In verständlicher Sprache erzählt er auf einzigartige Art von ausgestorbenen und modernen Völkern, von ihren Sorgen, ihrem Glauben und ihrem Alltag. Ich freue mich auf die Weihnachtstage, wenn ich dieses Buch und die beiliegenden Sternenhimmel-Karten mit meiner Familie aufschlagen und genießen werde.
Erich Koslowski, Galgenstrick: Seit über einem Jahr werde ich gequält. Von meinem unverschämten Körper. Kaum Schlaf, zentnerweise Tabletten. Aus heiterem Himmel gerissene Schultersehnen. Ich hopse von Arzt zu Arzt, von Physio- zur Cortisontherapie. Ein zufälliger Blick in die Auslage einer Buchhandlung reißt mich jäh aus meiner schmerzverzerrten Selbstbefindlichkeit. Ein kleines, knallrotes Buch mit schwarz schreiendem Titel: „Aua“. Der Autor: Axel Hacke. Sofort beginne ich innerlich zu grinsen. Seine Kolumnen unterhalten mich seit Jahren. Der Untertitel von „Aua“ (DuMont Verlag, 20 Euro): „Die Geschichte meines Körpers“. Beim genüsslich amüsierten Lesen meine ich, mich selbst zu erkennen. Kein Wunder, wir sind beinahe derselbe Jahrgang. Hacke hat sich beim Meditieren mal eine Rippe gebrochen. Durch heftigstes Niesen. Ich habe mir vor 25 Jahren nach einer Theateraufführung eine Rippe gebrochen. Beim Skifahren hat sich Hacke mal sein Steißbein gebrochen. Ich ebenfalls. Im Buch erfährt man, dass das Steißbein auch Schwanzbein genannt wird und ein Überbleibsel menschlich-tierischer degenerativer Körperentwicklung sei. Und man genießt mit dem Autor die Vorstellung, wie es wäre, wenn wir heute noch Onkel Christian und Tante Felicitas bei ihren Besuchen schwanzwedelnd begrüßen würden. In „Aua“ nimmt Axel Hacke sein Leben mit seinem Körper richtig ernst. Das führt dazu, sich mitunter als ungewollt komisch und manchmal nicht ganz ernst nehmend zu erkennen. Eine unterhaltende, immer wieder zu herzhaftem Lachen hinreißende Lektüre.
Susanne Lüdtke, Literaturvermittlerin: Eine Stadt im Osten, nahe der russischen Grenze. Hierher kommt Gabriel Dan, Hauptfigur und Ich-Erzähler in Joseph Roths Roman „Hotel Savoy“ (Anaconda Verlag, 3.95 Euro), nach fünf Jahren Krieg und Gefangenschaft mit der Hoffnung auf Unterstützung durch seine Verwandten. Aber Hilfe wird ihm der Onkel nicht gewähren. Mehr schlecht als recht schlägt er sich durch wie die meisten Bewohner in den oberen Etagen des Hotel Savoy. Hier wohnen die Armen oben und die Reichen unten. Die Welt ist aus den Fugen, nichts ist, wie es war. Tausende von Heimkehrern stranden an den Rändern der Stadt in Baracken ohne Wasser, ohne Kanalisation, in menschenunwürdigen Verhältnissen. Joseph Roth, 1894 in Brody (damals Österreich/Ungarn, heute Ukraine) geboren, hat den Zusammenbruch einer scheinbar fest gefügten Weltordnung selbst erlebt und unter den Eindrücken von Krieg, Kriegsfolgen und Wirtschaftskrise „Hotel Savoy“ geschrieben. Vor 100 Jahren erschien dieses Meisterwerk als Fortsetzungsroman in der Frankfurter Zeitung. Seine eindringliche und leider immer noch aktuelle Schilderung bedrückender Verhältnisse, die brillante Sprache und tiefe Menschlichkeit machen sein Buch zu einem großen Leseerlebnis.
Gerhard Polacek, Schauspieler: Ich empfehle Walter Moers’ „Weihnachten auf der Lindwurmfeste“ (Penguin Verlag, 22 Euro). Als Österreicher meiner Generation war es schier unmöglich, am Thema Lindwurm vorbeizukommen, zumal an dem, der heute noch als Wahrzeichen von Kärntens Landeshauptstadt Klagenfurt herhalten muss. Ob als fantasieanregende Zeichenvorlage oder als x-fach gelesene und als Inhaltsangabe wiedergekäute Sage – der Drache war omnipräsent. Anders als in Asien, wo er ein Glückssymbol ist, als Symbol des Sieges der Menschen über das Böse: „An dieser Stelle will ich mein Klagenfurt erbauen“, hat irgendjemand Mächtiges gesprochen. Der Zamonische Lindwurm dieses Buches steht für die Dichtkunst und spielt in der Literaturgeschichte Zamoniens eine überragende Rolle. Hildegunst von Mythenmetz ist wohl der prominenteste Bewohner der Lindwurmfeste. Als Walter Moers seinen Briefwechsel mit dem Antiquar Hachmed Ben Kibitzer in die Hände bekam und übersetzte, stellte sich heraus, dass auf dieser Feste auch viele Feste gefeiert werden und besonders eines erstaunlich ähnliche Auswirkungen auf die Zamonier hat wie Weihnachten auf uns Menschen. Dieses Buch ist humorvollste Weihnachtsfantasy für alle nicht allzu Advent-beseelten Leser und Leserinnen. Die Illustration von Lydia Rode ist eine unverzichtbare Hilfestellung, um in Zamoniens bezaubernde, skurrile Welt einzutauchen.
Bettina Langenheim, frühere Leiterin der Esslinger Kinderbücherei, die im Kulturamt Programme für junges Publikum plant: Für Leserinnen und Leser ab elf Jahren empfehle ich Lena Hachs originelle Krimigeschichte „Was Wanda will“ (Mixtvision, 16 Euro). Als die Titelheldin wieder mal aus einer Schule geflogen ist und in eine neue Klasse kommt, eilt ihr kein allzu guter Ruf voraus. Und sie hat schon wieder einen wilden Plan: Aus einer Villa am Stadtpark möchte sie einen signierten Tennisball mitgehen lassen – die Gründe dafür bleiben bis zuletzt im Dunklen. Weil Wanda einen solchen Coup nicht alleine schafft, will sie einige ihrer Mitschülerinnen und -schüler dafür gewinnen. Jeder von ihnen hat ganz besondere Fähigkeiten – eine wild zusammengewürfelte Truppe, die jedoch gerade wegen ihrer Unterschiedlichkeit so gut zusammenpassen. Alleine Wandas Versuche, die anderen für diese verrückte Aktion zu gewinnen, lesen sich höchst unterhaltsam. Wandas Plan ist perfekt ausgeklügelt. Als trotzdem alles schiefgeht, zeigt jeder einzelne, was wirklich in ihm steckt. Das ist eine richtig schöne Gaunergeschichte, die ein bisschen an „Ocean’s Eleven“ erinnert. Und hier wie da endet alles mit einem echten Clou. Die Geschichte ist locker, leicht und witzig erzählt – mal etwas völlig anderes.
Andrea Goettel, Leiterin der Deizisauer Bücherei: Alina Bronsky erzählt in „Pi mal Daumen“ (Kiepenheuer & Witsch, 24 Euro) die Geschichte einer ungewöhnlichen Freundschaft: Oscar, ein 16-jähriger Überflieger mit autistischen Zügen, und die 53-jährige Moni, die ihren übellaunigen Partner versorgt, sich um ihre drei Enkel kümmert und abends in einem Hotel arbeitet, treffen als Studienanfänger in einer Mathe-Vorlesung aufeinander. Moni hat ihrer Familie ihr spätes Studium verheimlicht. Herablassend bietet Oscar an, die Hausaufgaben für sie abzugeben. Sie wird sowieso bald aufgeben, da ist er sich sicher. Nach anfänglicher Skepsis nähern sich diese so grundverschiedenen Menschen an, und bald muss Oscar feststellen, dass Monis Verstand und Hartnäckigkeit größer sind als ihre Wissenslücken. Oscar erfährt in Moni eine warmherzige Vertraute, die ihm bei seinen außergewöhnlichen Alltagsproblemen hilft. Das liest sich flüssig, und nicht zuletzt lassen besonders Oscars Sicht auf die Dinge einen immer wieder herzhaft auflachen. Was die beiden an der Uni und im Privaten erleben, erzählt die Autorin auf tragisch-witzige Weise, ist liebenswert, spannend und hat Tiefgang.