Jitka Sklenářová hinterfragt traditionelle Geschlechterbilder. Foto: Ines Rudel

Aktionstage machen in Esslingen ab dem 25. November auf Gewalt gegen Frauen aufmerksam. Im Interview nennt die städtische Beauftragte für Chancengleichheit, Jitka Sklenářová, strukturelle Ursachen des Problems und appelliert an Männer.

Aktionstage machen in der Stadt Esslingen von Montag, 25. November, an auf Gewalt gegen Frauen aufmerksam. Im Interview nennt die städtische Beauftragte für Chancengleichheit, Jitka Sklenářová, strukturelle Ursachen des Problems und appelliert an Männer.

 

Frau Sklenářová, die Stadt Esslingen greift in diesem Jahr erstmals mit einem mehrwöchigen Programm die OrangeDays-Kampagne auf, die sich gegen die Gewalt an Frauen richtet. Warum?

Das Thema ist nach wie vor sehr wichtig und muss ernst genommen werden. Der 25. November, der internationale Tag gegen Gewalt an Frauen, wurde in Esslingen schon seit Längerem begangen. Dass wir die Kampagne jetzt größer aufziehen, geht auch auf das Engagement des Clubs Soroptimist International und der City-Initiative zurück. Wir wollen nicht nur an einem Tag darüber informieren, sondern den längeren Zeitraum nutzen. Denn die Gewaltformen sind vielfältig. Es geht nicht nur um physische und sexualisierte Gewalt, sondern beispielsweise auch um psychische und ökonomische Gewalt.

Was kann man sich darunter vorstellen?

Psychische Gewalt sind zum Beispiel Demütigungen, Erniedrigungen, emotionale Erpressungen oder soziale Isolation. Ökonomische Gewalt wäre beispielsweise der finanzielle Druck durch den Täter, wenn Frauen nicht berufstätig sind, weil sie im Haushalt arbeiten. Dann sind sie finanziell vollkommen abhängig von ihrem Partner und können es sich schlicht nicht leisten, sich zu trennen.

Die Zahlen zu häuslicher Gewalt „sind erschreckend“

Gewalt gegen Frauen zieht sich durch die gesamte Gesellschaft. Welche strukturellen Faktoren stecken dahinter?

Traditionelle Geschlechterbilder sind nicht einfach zu ändern, auch nicht durch Gesetze. Gerade weil gesetzlich vieles geregelt ist, werden die Probleme oft in die Privatsphäre abgeschoben. So wird gern erzählt, es sei die individuelle Wahl der Frau, wenn sie zuhause bleibe. Aber dahinter stecken ungerechte Strukturen: Berufe, für die sich eher Frauen interessieren, werden schlechter bezahlt als die sogenannten Männerberufe. Dann ist es ökonomisch sinnvoller, wenn der Besserverdiener das Geld bringt. Grundsätzlich hat aber häusliche Gewalt mit Machtstrukturen beziehungsweise Machtvorstellungen zu tun. Man will an einer gewissen Ordnung festhalten, Kontrolle ausüben und sich durchsetzen.

Ist es ein besonderer Fall, wenn der Aufenthaltstitel einer geflüchteten Frau von der Beziehung zu einem gewalttätigen Mann abhängt?

Geflüchtete oder Zugewanderte sind eine besonders vulnerable Gruppe. Wenn man plötzlich neu in einem Land lebt, dessen System man nicht versteht und auch die Sprache nicht kennt, ist man komplett ausgeliefert. Solche Notlagen können die Täter ausnutzen. Denn geflüchtete Frauen haben bereits traumatische Erfahrungen und eine existenzielle Angst, dass sie zurückgeschickt werden könnten, wenn sie sich vom gewalttätigen Partner trennen. Das stimmt nicht. Aber die Täter klären ihre Opfer natürlich nicht über deren Rechte auf.

Symbol gegen Gewalt an Frauen: Jitka Sklenářová bei der Eröffnung einer roten Bank in der Maille Foto: Roberto /Bulgrin

Wo sind in Esslingen beim Thema häusliche Gewalt noch kommunalpolitische Ansatzpunkte?

Es ist wichtig, gerade die freiwilligen Aufgaben und die sozialen Themen nicht zu vernachlässigen – auch vor dem Hintergrund angespannter Haushaltslagen. Denn wenn zum Beispiel Präventionsangebote eingeschränkt werden, wird es langfristig teurer. Zum Beispiel die Folgekosten bei häuslicher Gewalt: Wenn Frauen umziehen, müssen sie oft die Stadt oder sogar das Bundesland wechseln und zudem ihre Kinder mitnehmen. Es ist – auch finanziell gesehen – ein enormer Aufwand, die Betroffenen zu stabilisieren und sie zu befähigen, wieder am Leben teilzuhaben.

Gespräche von Mann zu Mann

Haben Sie das Gefühl, dass die Problematik gesellschaftlich unterschätzt wird?

Es ist immer noch ein Tabu, es wird nicht so häufig darüber gesprochen. Ich habe schon öfter erfahren, dass junge Frauen die Hilfsangebote nicht kennen. Viele wissen nicht, dass man die Notrufnummer 110 anruft, wenn eine akute Gefahr da ist. Außerdem gibt es ein Hilfetelefon, das rund um die Uhr erreichbar ist, sowie lokale Beratungsstellen wie Frauen helfen Frauen oder Wildwasser. Insgesamt sind die Zahlen erschreckend. Jede dritte Frau erlebt mindestens einmal in ihrem Leben physische oder sexualisierte Gewalt. Daher ist es statistisch sehr wahrscheinlich, dass alle von uns im Freundeskreis Menschen haben, die gegenüber Frauen gewalttätig sind.

Was sollten Männer tun, wenn sie in ihrem Umfeld sexistische Einstellung wahrnehmen?

Ansprechen! Wenn jemand sexistische Witze reißt, ist es beispielsweise vollkommen legitim zu sagen: „Hey, das ist nicht okay!“ Wenn das von Mann zu Mann gesagt wird, wirkt es noch mal anders. Sexismus ist kein Frauenthema, es braucht auch Männer, die aktiv werden. Das Private ist bekannterweise politisch und bei diesem Thema passt es wunderbar.

Im vergangenen Jahr waren 256 276 Menschen betroffen

Zur Person
Die gebürtige Tschechin Jitka Sklenářová zog nach ihrem Studium der Medienwissenschaft und Soziologie erst nach Berlin und später nach Stuttgart. Dort arbeitete sie im Landtag und vertrat die Grünen im Stadtrat. Seit dem vergangenen Jahr ist die 35-Jährige Beauftragte für Chancengleichheit in Esslingen.

Zum Problem
2023 wurden dem Bundeskriminalamt zufolge 256 276 Betroffene von häuslicher Gewalt erfasst, 6,5 Prozent mehr als im Vorjahr. 70,5 Prozent der Opfer waren weiblich, 75,6 Prozent der Täter männlich. 331 Menschen wurden getötet. In Esslingen suchten im vergangenen Jahr nach Angaben der Stadt 216 Frauen die ambulante Beratungsstelle für Betroffene auf.

Zur Kampagne
„Orange the World“ macht seit 1991 weltweit auf Gewalt gegen Frauen und Mädchen aufmerksam. Die Aktionswochen finden in Esslingen in diesem Jahr vom 25. November bis zum Tag der Menschenrechte am 10. Dezember statt.