Kein Auftritt als Komiker: Kris Rogers sagt, er wolle „einmal das Maul halten“. Foto: Horst Rudel

Viele der Künstlerinnen und Künstler, die auf dem Esslinger Mittelalter- und Weihnachtsmarkt auf der Bühne stehen, leben in Berlin. Sie sind von dem feigen Anschlag doppelt betroffen.

Esslingen - Zwei Botschaften, die gegensätzlicher nicht sein könnten, beschreiben den Gewissenskonflikt, in dem sich die Künstler auf dem Esslinger Mittelaltermarkt am Dienstag nach dem Anschlag von Berlin bewegt haben. „In tiefer Anteilnahme an den gestrigen Vorfall in Berlin entfällt heute das Kulturprogramm“, stand auf den Anzeigetafeln der drei Schaubühnen noch um die Mittagszeit zu lesen. Und wenig später war die Absage ausgewischt und ersetzt durch die Worte: „In Anteilnahme an die Opfer in Berlin findet um 17 Uhr ein Gedenkkonzert statt.“

Mit dem Entschluss, ein sicht- und hörbares Zeichen gegen Gewalt und Unmenschlichkeit zu setzen, hat sich das Künstlervolk bewusst gegen die von Michael Metzler, dem Geschäftsführer der marktveranstaltenden Esslinger Stadtmarketing-Gesellschaft (EST), ausgerufene Auftrittspause entschieden. Vorausgegangen war eine Sitzung im Künstlerkeller hinter der Esslinger Stadtbücherei.

Weihnachtsmarkt-Engagement in Berlin abgelehnt

„Wenn wir nicht rausgehen und Stellung gegen diesen Wahnsinn beziehen, wer soll es dann machen?“, fasst die Schauspielerin, Stelzenläuferin und Feuerzauberin Lidia Buonfino die Haltung ihrer Kolleginnen und Kollegen zusammen. Nicht Gaukelei und Klamauk, sondern Poesie und Musik wolle die internationale Künstlerschar, dem Anlass angemessen, auf die Bühne am Rathausplatz bringen.

Viele der Künstlerinnen und Künstler, die in diesen Tagen den Mittelaltermarkt beleben, sind von dem tragischen Geschehen in Berlin doppelt betroffen. Etwa die Hälfte der für die gesamte Dauer des Markts verpflichteten Gaukler, Schauspieler und Musiker hat zumindest einen Wohnsitz in der Bundeshauptstadt. Nicht wenige von ihnen hatten ein Weihnachtsmarkt-Engagement in Berlin abgelehnt und sind stattdessen nach Esslingen gekommen.

„Ich komme auf dem Weg zur Arbeit beinahe täglich an der Anschlagstelle vorbei“, sagt Kris Rogers. Der walisische Jongleur ist seit sieben Jahren das wohl bekannteste Gesicht auf den Bühnen des Esslinger Mittelaltermarkts. „Fleapit“, so sein Künstlername, wohnt seit beinahe zwei Jahrzehnten in Berlin. Er hat an der Nelson-Mandela-Schule, einer von der Unesco getragenen zweisprachig ausgerichteten Schule, einen festen Lehrauftrag. „Ich unterrichte Geschichten-Erzählen und Creative Writing, aber eigentlich lernen die Schüler von mir zuhören“, sagt er. Ihn selbst habe es am Tag danach nicht auf die Bühne gedrängt. „Das passt nicht, weil ich den provokanten Komiker gebe“, sagt er. Im Schulterschluss mit den Kollegen allerdings hat er sich am Nachmittag dann doch auf der zentralen Rathausbühne gezeigt.

Keine Trotzreaktion

Kein Auftritt aus Pietätsgründen, ja. Kein Auftritt aus Angst, nein. „Ich bin in Großbritannien zu den Hochzeiten des IRA-Terrors aufgewachsen. In London und Birmingham sind da gefühlt ständig Bomben hochgegangen“, sagt er. Damals habe er viele Freunde verloren, ebenso wie auf der Sir Galahad, einem im Falklandkrieg getroffenen Landungsschiff, das er kurz vor dem Auslaufen verlassen hatte.

Sven Brömsel, der promovierte Philosoph, der in Esslingen als Mitglied der Gruppe Schmierenkomödianten auf der Bühne blödelt, wohnt wie Lidia Buonfino und Kris Rogers ebenfalls in Berlin. „Ich hätte dort ein Engagement haben können“, sagt er. Letztlich aber habe er sich für Esslingen entschieden. Einen Satz wie „Ich bin ein Berliner“ als Trotzreaktion auf den feigen Anschlag auszusprechen, könne er sich nicht vorstellen. „Wir müssen unsere eigenen Worte finden und nicht irgendwelche Parolen nachplappern“, sagt er. Besser gefalle ihm da schon „Solidarität mit den Menschen“ – und das gelte dann nicht nur für Berlin, sondern eben auch für Aleppo.

Liebe, Glaube, Hoffung – die Botschaft der Künstl

Lidia Buonfino, deutscher Pass, in Italien geboren, mit einem Holländer verheiratet, stimmt dem zu – und sieht die Künstler in einer besonderen Verantwortung. „Es leuchtet mir nicht ein, wie man das Kulturprogramm streichen kann, gleichzeitig aber Bratwürste und Glühwein weiterverkauft“, sagt sie. Die Gewichtung von Kultur und Kommerz wolle sie lieber nicht näher kommentieren. „Ich verstehe nicht, weshalb man uns nicht zutraut, auf solch ein schreckliches Ereignis angemessen zu reagieren“, sagt die Schauspielerin. Tatsache sei doch, dass niemand ein glaubhafteres Zeichen gegen Gewalt und Engstirnigkeit auf der Welt setzen könne als die international zusammengewürfelte Künstlergemeinschaft. „Glaube, Liebe, Hoffnung – das ist doch unsere Botschaft an die Menschen“, sagt sie. Eine Botschaft, die nicht nur, aber vor allem jetzt zur Weihnachtszeit gehört werden sollte.

Am Mittwoch, dem vorletzten Tag des Esslinger Mittelalter- und Weihnachtsmarkts, da sind sich die Künstler und der Veranstalter von Anfang an einig gewesen, wird das Programm wie geplant über die Bühne gehen. Der Höhepunkt des vierwöchigen Markttreibens ist der um 20.30 Uhr beginnende Fackelzug, der zum Wintersonnenwend-Fest zur Esslinger Burg hinauf führt. Dort gibt es im Anschluss eine Feuershow mit Feuertanz.