Die Angeklagte ist am Landgericht Stuttgart des versuchten Totschlags für schuldig befunden worden, muss aber nicht ins Gefängnis. (Symbolbild) Foto: dpa/Sebastian Kahnert

Eine psychisch kranke 23-Jährige ist vom Landgericht Stuttgart wegen versuchten Totschlags zu einer zweijährigen Bewährungsstrafe verurteilt worden. Sie hatte am Bahnhof in Esslingen mit einer Schere auf eine Kontrahentin eingestochen.

Esslingen - Nach der Urteilsverkündung vor dem Landgericht Stuttgart fließen bei der Angeklagten und ihren Angehörigen Tränen der Erleichterung. Die 1. Große Strafkammer hat am Mittwoch gegen die psychisch kranke 23-Jährige eine zweijährige Bewährungsstrafe wegen versuchten Totschlags und gefährlicher Körperverletzung verhängt. Die Frau hatte am frühen Morgen des 10. April vergangenen Jahres am Bahnhof in Esslingen im Streit mit einer Schere auf eine 25-Jährige eingestochen. Die Tat, bei der alle Beteiligten erheblich alkoholisiert waren, war ursprünglich als versuchter Mord angeklagt gewesen.

Kameras nehmen die Tat auf

Der jungen Frau auf der Anklagebank und ihren Angehörigen im Zuhörerraum des Gerichtssaals 6 fällt kollektiv ein Stein vom Herzen. Denn wäre es nach dem Staatsanwalt gegangen, hätte die 23-Jährige eine Haftstrafe von viereinhalb Jahren verbüßen müssen. Diese hatte der Ankläger wegen versuchten Totschlags gefordert. Vom Vorwurf des versuchten Mordes war er in seinem Plädoyer jedoch abgerückt. Ebenso wie die Strafkammer unter dem Vorsitz des Richters Christian Klotz, die der Angeklagten zudem mildernde Umstände zugestand, als sie damals gegen 2.30 Uhr am Bahnhof in Esslingen zufällig mit ihrem Begleiter auf die 25-Jährige und deren Freundin traf. Letztere beleidigte die Entgegenkommenden als „ein wenig asozial“, was bereits eine aggressive Grundstimmung unter den Betrunkenen auslöste – bei der Angeklagten wurden seinerzeit 1,8 Promille, beim Opfer 2,3 Promille festgestellt.

Mehrfach ging das Geschehen hin und her: man stritt, versöhnte sich wieder einigermaßen, um dann doch wieder ausfällig zu werden. All das nahmen die Überwachungskameras auf, was die Kammer laut Christian Klotz in die „komfortable Lage“ versetzte, das Geschehen rund um die Tat und auch den gefährlichen Übergriff selbst exakt nachvollziehen zu können. Darunter auch die entscheidende Szene, in der die 25-Jährige die Angeklagte offenbar übel beleidigt hat – es sollen Worte wie Schlampe und Hure gefallen sein. Daraufhin rastete diese aus, zog eine Schere aus der Tasche, riss ihr Opfer zu Boden und stach fünfmal auf dieses ein. Dabei wurde die junge Frau nur leicht verletzt, sie leidet aber bis heute unter den psychischen Folgen der Tat.

Die Angeklagte selbst ist seit vielen Jahren psychisch krank. Sie leidet seit ihrer Jugend – unter anderem wegen Mobbings in der Schulzeit – unter einer Persönlichkeits- sowie einer Borderline-Störung und unter schweren Depressionen. Zudem ist sie von diversen Drogen abhängig. In jener Nacht kam nach Ansicht des Gerichts auch noch ein emotionaler Ausnahmezustand hinzu. Sie hatte mit ihrem Freund Schluss gemacht, worauf dieser drohte sich umzubringen, und sie auch noch Vorwürfe von ihrer Mutter zu hören bekam.

All das, gepaart mit den Beleidigungen ihrer Kontrahentin, hat laut Klotz die 23-Jährige „zum Zorn hingerissen“ und letztlich zu einer „Störung der Impulskontrolle“ und einer erheblichen Einschränkung ihrer Steuerungsfähigkeit geführt. Sie habe in ihrer Wut auf die Frau eingestochen, ohne dass ihr in diesem Moment deren Arg- und Wehrlosigkeit bewusst gewesen sei. Damit sei das in der Anklage angeführte Mordmerkmal der Heimtücke nicht erfüllt. Deshalb sei sie wegen versuchten Totschlags zu verurteilen.

Diverse Behandlungen als Auflage

Nach der Tat musste die 23-Jährige im vergangenen Jahr zwei Monate in Untersuchungshaft verbringen. Die Zeit im Gefängnis „hat ihr als Warnung gedient“, nimmt Klotz an. Daran, dass sie nun nicht hinter Gitter muss, sondern eine Bewährung erhält, knüpft die Kammer einige Auflagen. Schon im Dezember muss sie eine stationäre Psychotherapie in einer Klinik beginnen. Auf diese habe dann „möglichst nahtlos“ eine ebenfalls stationäre Suchttherapie mit einer Entziehung zu folgen. Danach kommt noch zusätzlich eine ambulante Psychotherapie auf die Angeklagte zu. All das müsse regelmäßig beim Gericht nachgewiesen werden, erklärt der Vorsitzende Richter.

Bei den Auflagen stützt sich die Kammer auch auf die Empfehlung und Einschätzung eines psychiatrischen Gutachters. Er bewertet die Attacke mit der Schere als eine „singuläre Tat unter der Verkettung mehrerer ungünstiger Umstände“.