Cem Özdemir (links) sprach mit dem Esslinger Redaktionsleiter Kai Holoch über seinen politischen Weg in Deutschland. Foto: Horst Rudel

Der Bundesvorsitzende der Grünen, Cem Özdemir, besucht unsere Redaktion und spricht vom anatolischen Schwabentum, von Streit um Jacketts und von seinen Eltern.

Esslingen - Auch als Bundesvorsitzender der grünen Partei kann man es schaffen, seine Eltern zu enttäuschen. Cem Özdemir, der am Freitagabend zum Redaktionsgespräch nach Esslingen gekommen war, hat es auch darauf angelegt. Denn der Einwanderersohn aus Urach wollte unbedingt Erzieher werden. Und wenn die Mütter in Urach um den Tisch saßen, um mit ihren Kindern anzugeben, weil der eine Ingenieur und der andere Gottweißwas geworden sei, sagte die Mutter von Cem Özdemir nur, „mein Sohn spielt mit Kindern“.

Dass er den Wehrdienst in der Türkei verweigerte, dass er die türkische Staatsbürgerschaft gegen die deutsche eintauschte, dass er für sich beschloss, nicht mit den Gedanken und dem Herzen, ständig in einem Land zu leben, das für ihn zwar wahnsinnig wichtig, aber eben nicht sein Geburtsland ist, und sich stattdessen für Deutschland und mehr noch für Europa einzusetzen, das war für die Eltern genauso schwer zu schlucken.

Cem Özdemir hat an diesem Abend weniger über politische Standpunkte gesprochen, als über sich und seinen Weg in die Politik. Vielleicht war es das Verdienst des Conférenciers und Esslinger Redaktionsleiters Kai Holoch, vielleicht aber auch die ungezwungene Atmosphäre in unserer Esslinger Redaktion, die die Unterhaltung zu einem Werkstatt-Gespräch in Werkstatt-Atmosphäre werden ließ, wie es der Chefredakteur der Stuttgarter Zeitung, Joachim Dorfs, beschrieb.

Cem Özdemir beschrieb jedenfalls offen seinen Weg in den politischen Kraftfeldern der Grünen. Er kam vom Kreisverband Ludwigsburg und stieß zu den Tübinger Grünen, die stets besonders links und besonders grün waren. Weil sie jedweder Form von Verwaltung und Datenspeicherung misstrauten, bekam er keinen Mitgliedausweis, auch weigerten sich die Tübinger, Mitgliederlisten an die Bundespartei zu schicken. Cem Özdemir hatte damals einen schweren Stand. Leicht verständlich für jeden, der die Tübinger Linken oder Grünen kennt, der weiß, wie erbarmungslos in jenen Tagen und wahrscheinlich sogar bis heute Abweichler zerstampft wurden und werden.

Er ging im Streit von Tübingen weg, und der Hauptstreit sei damals gewesen, dass Cem Özdemir es gewagt hatte, ein Jackett zu tragen. Dabei war die Anzugjacke doch das stolze Symbol des Aufstiegs eines Arbeiterkindes. Doch dafür hatten die Linken aus der Mittel- und Oberschicht, die bewusst auf die Statussymbole ihrer Klasse verzichteten, überhaupt kein Verständnis.

Von 1994 bis 2002 war er Bundestagsabgeordneter, von 2004 bis 2009 saß er im Europa-Parlament. Cem Özdemir war zusammen mit Leyla Onur der erste türkischstämmige Parlamentarier im Bundestag und wurde so schnell berühmt. Besonders in der Türkei war man stolz auf einen Landsmann, der es in den Bundestag geschafft hatte. Aber war Cem Özdemir überhaupt ein Landsmann?

Er hatte damals keinen Begriff, keine Bezeichnung für sich. Die Medien verliehen ihm wenig schmeichelhafte Namen, um das Phänomen eines emporgekommenen Gastarbeiter-Kindes zu beschreiben, das allerdings kein Gast ist, sondern nur ein Arbeiterkind. Also musste er gegensteuern und erfand den Begriff des „anatolischen Schwaben“ für sich. Eine beinahe tragische Bezeichnung, war doch für die Deutschen damals das Wort „Anatolien“ ein Sinnbild für Rückständigkeit, während Cem Özdemir mit dem Begriff den großen Reichtum der damaligen Türkei an Kulturen, Religionen, Sprachen und Völkern verband.

Seinen politischen Auftrag sieht Cem Özdemir darin, seinen Kindern die Welt besser zu hinterlassen, als er sie vorgefunden hat. Da geht es nicht nur um Umwelt, um Windkraft, oder um Elektromobilität, sondern auch um mehr Frieden und mehr Wahrheit. Ein Satz der sich gegen Pegida und andere richtet, die behaupten, nur sie allein hätten die Wahrheit gepachtet und alle anderen, die Medien wie die Gesellschaft, würden lügen.

Ausgeklammert war an diesem Abend die Frage nach der Religion, die in den vergangenen Monaten in Deutschland so wichtig geworden ist. Er kommt aus einer muslimischen Familie, aber er erzählt seinen Kindern, dass Mohammed und Jesus die besten Freunde seien. Vieles an diesem Abend ist ausgeklammert gewesen. Brüche, Dinge, die er getan hat, und die er vielleicht bereut haben mag. Dazu war in dieser einen Stunde Gespräch keine Zeit mehr, und so bleibt das Fazit dieses Freitagabends, dass Cem Özdemir eine jener Persönlichkeiten ist, von denen man unmöglich in nur einer Stunde alle Facetten ihres Lebens erfahren kann.