Schach ist mehr als ein Spiel Foto: AFP

Schach ist nicht nur ein Sport. Schach ist alles: ein Abenteuer, ein euphorischer Aufbruch ins Unbekannte, ein Asyl für Kreative und Entdecker, manchmal auch ein Machtkampf. Es ist eine Einladung zum Gespräch – und ach ja: Ein Spiel ist es natürlich auch – irgendwie. Ein Essay von Norbert Wallet.

Stuttgart - Schwarz oder Weiß, es gibt keine Alternative. Beim Schach heißt es: Verstehen oder gehen. Das ist anders als bei anderen Sportarten. Skispringen oder Turnen kann man mögen oder nicht. Aber man kann es auf einen Blick begreifen, bewerten, einschätzen. Einen Sturz erkennt auch der Laie, eine verpatzte Reckübung auch. Schach ist hermetisch. Man muss seine Regeln kennen, um es zu bewerten.

Darunter leiden auch die Schachspieler, denn sie wünschen sich Publikum, Anerkennung und Aufmerksamkeit. Allein in Deutschland spielen 100 000 Menschen in Vereinen. Von der Kreis- bis zur Bundesliga kämpfen sie um Punkte, Meisterschaft und Nichtabstieg. Als Einzelsport gibt es allwöchentlich zahllose Open. Es gibt Europa- und Weltmeisterschaften. Gerade verteidigt in New York der Norweger Magnus Carlsen seinen WM-Titel in einem dramatischen Match – es steht zwei Spiele vor Schluss unentschieden 5:5 – gegen den Russen Sergej Karjakin. Da öffnet sich ein Fenster. Schach wird publik. Mancher Beobachter fragt sich: Was sind das für Menschen, die ihr Leben einem Spiel widmen, es buchstäblich mit dem Schieben von Holzfiguren verbringen. Was treibt sie an? So schwer ist die Antwort nicht. Einerseits. Die Spitzenspieler treibt an, was jeden Sportler antreibt: die Jagd nach Erfolg, nach Ruhm und Ehre. Schach ist nämlich genau das – ein Sport.

Nein, Schach ist anders. Es hat seinen eigenen Antrieb, den erst versteht, wer es spielt. Wer ein Schachspiel beginnt, der fällt aus der Zeit. Wo fällt er hin? Ins Bodenlose, ins Uferlose. Die Legende vom Weizenkorn: Der Khalif bedankt sich bei einem Untertanen für eine erwiesene Wohltat und fragt nach seinem Wunsch. Der ist moderat. Ein Weizenkorn wünscht er sich auf dem ersten Feld seines Schachbretts, zwei nur auf das zweite, vier auf das vierte. Und so weiter. Es sind nur 64 Felder. Ist doch nicht viel. Der Khalif, gerührt über so viel Bescheidenheit, erfüllt den Wunsch. Ein Fehler. Am Ende sind es 18 446 744 073 709 551 615 Körner, mehr als 18 Trillionen. In Eisenbahnwaggons gefüllt reichte der Zug 14500-mal um die Erde.