Deutsche Truppen überschreiten im Sommer 1914 die Grenze nach Frankreich. Foto: dpa

100 Jahre nach Beginn des Ersten Weltkriegs sind seine Folgen weiter aktuell. Europas Staatenlenker entfesselten einen Konflikt, der die internationale Politik bis heute bestimmt.

Stuttgart - Nicht das Jahr 1900 markiert den Beginn der Moderne, sondern das Jahr 1914. Für den britischen Historiker Marek Mazower markiert 1914 den Beginn eines Jahrhunderts, das Europa in einen „dunklen Kontinent“ verwandelte und die Welt in den zurückliegenden 100 Jahren zu einem Schauplatz erbitterter und entmenschlichter kriegerischer und weltanschaulicher Konflikte machte.

Ohne den Großen Krieg 1914 bis 1918, ohne die Unfähigkeit der imperialistischen Mächte, die drohende Katastrophe zu verhindern, ohne das Scheitern der Weimarer Republik und die Revolution in Russland 1917 wären die Namen Stalin, Mussolini, Hitler und Mao Tse Tung heute nur wenigen bekannt.

Der Zerfall der Imperien

Gewalt und Ausmaß des dramatischen Ringens sprengten alle Dimensionen bisheriger Konflikte und traumatisierten Millionen Menschen. Nach vier Jahren beispiellosen Mordens gingen die alten Mächte des Kontinents unter – wie das Wilhelminische Kaiserreich, die österreichisch-ungarische Doppelmonarchie, das russische Zarenreich und das Osmanische Reich –oder wurden geschwächt wie das britische Empire und das französische Kolonialreich. Am Ende war die alte Ordnung zerstört und Europa für Jahrzehnte erschüttert.

Die Geschichte der Kriegsgeneration löst neue Debatten über die Schuldfrage, die technologische Revolution des Tötens und die Frage der Unvermeidlichkeit des barbarischen Ringens aus. All diese Beiträge eint die Erkenntnis, dass der Krieg wie ein Katalysator die Entwicklungen der nächsten 100 Jahre bestimmte. „Wenn wir den Ersten Weltkrieg nicht verstehen, wird uns das ganze 20. Jahrhundert ein Rätsel bleiben“, schreibt der Berliner Historiker Herfried Münkler in seinem jüngst erschienenen Buch „Der große Krieg. Die Welt 1914 bis 1918“. Ähnlich formuliert es der deutsche Historiker Hans-Ulrich Wehler, der vom „Dreißigjährigen Krieg“ spricht. Wie beim Inferno 1618 bis 1948 wurde ein Großteil der europäischen Bevölkerung.

Kriegstote und Völkermord

Nach Schätzungen sind in den Kämpfen des Ersten Weltkriegs zwischen 8,5 und zehn Millionen Soldaten getötet worden, mehr als 20 Millionen wurden verwundet. Nicht minder hoch war der Blutzoll bei Zivilsten. Allein in Russland und Türkei fielen dem Krieg jeweils zwei Millionen Menschen zum Opfer, in Deutschland waren es rund 700 000 und im sehr viel kleineren Serbien bis zu 600 000.

Auch der Völkermord an den Armeniern geschah während des Ersten Weltkrieges unter Verantwortung der jung-türkischen Regierung des Osmanischen Reichs. Einem der ersten systematischen Genozide des 20. Jahrhunderts fielen bei Massakern und Todesmärschen 1915 und 1916 zwischen 300 000 1,5 Millionen Menschen zum Opfer. Während der Übergriffe in den beiden Jahrzehnten zuvor waren bereits Hunderttausende christliche Armenier ums Leben gekommen.

Als der Krieg aufgrund der totalen Erschöpfung der Mittelmächte Deutschland und Österreich-Ungarn zu Ende ging, begann eine andere humanitäre Katastrophe, die in der Geschichte der Menschheit nur mit dem Schwarzen Tod, der großen europäischen Pestepidemie, zu vergleichen ist: die Spanische Grippe. 1347 bis 1353 fielen rund 25 Millionen Menschen – ein Drittel der damaligen europäischen Bevölkerung –der Seuche zum Opfer. Vom Sommer 1918 bis zum Frühjahr 1919 waren es nach Schätzungen weltweit zwischen 27 und 50 Millionen.