Trudeau profitierte gerade zu Beginn seiner ersten Amtszeit vom Ruf seines verstorbenen Vaters. Foto: AP/Paul Chiasson

Die Liberalen bleiben stärkste Kraft in Kanada, feiern aber anders als 2015 keinen Durchmarsch. Die absolute Mehrheit ist dahin, eine Minderheitsregierung wird wohl nötig. Skandale und enttäuschte Erwartungen kratzten am Nimbus von Premier Justin Trudeau.

Toronto - Trotz jüngster Skandale hat sich der kanadische Premierminister Justin Trudeau offenbar eine zweite Amtszeit gesichert. Aus der Parlamentswahl gingen seine Liberalen als stärkste Kraft hervor, büßten jedoch ihre absolute Mehrheit ein, wie der Sender CBC prognostizierte. Damit müssten sie sich künftig zum Machterhalt auf eine Oppositionspartei stützen. Beobachter gehen davon aus, dass die Liberalen einer Minderheitsregierung unter Duldung der sozialdemokratischen New Democrats bilden dürften.

Vor vier Jahren hatte Trudeau dank seines Charismas eine Welle der Begeisterung an die Regierungsspitze getragen. Zuvor hatte fast zehn Jahre lang die Konservative Partei die Geschicke Kanadas bestimmt. In die jüngste Wahl ging der Amtsinhaber indes angeschlagen, mit dem unprätentiös wirkenden Chef der Konservativen Andrew Scheer erwuchs ihm ein ernsthafter Konkurrent.

Druck durch Skandale

Unter Druck geriet Trudeau durch einige Skandale: Im September waren alte Fotos von Trudeau aufgetaucht, die ihn mit dunkel geschminktem Gesicht zeigten. Das sogenannte Black- oder Brownfacing, bei dem Weiße dunkelhäutige Menschen mimen, gilt wegen stereotyper Darstellungen in Nordamerika mittlerweile als verpönt. Trudeau zeigte sich nach Bekanntwerden einschlägiger Bilder zerknirscht, musste sich aber vor allem von seinem ärgsten Widersacher Scheer scharfe Kritik anhören. So nannte er Trudeau unter anderem einen Heuchler, der sich noch nicht einmal daran erinnern könne, wie er oft er sein Gesicht dunkel angemalt habe.

Als noch gravierender für Trudeau galt vielen ein Wirtschaftsskandal: Um Ermittlungen gegen ein Unternehmen aus der Provinz Quebec zu verhindern, soll er in unzulässiger Weise Druck auf seine ehemalige Justizministerin ausgeübt haben. Trudeau beteuerte, sich nur um die auf dem Spiel stehenden Jobs bemüht zu haben.

Ungewöhnliche Aktion

Wohl angesichts Trudeaus prekärer Lage schaltete sich Barack Obama mit einer für einen US-Expräsidenten ungewöhnlichen Aktion in den Wahlkampf beim nördlichen Nachbarn ein: Die Kanadier sollten Trudeau wiederwählen, da die Welt jetzt seinen progressiven Führungsstil brauche, warb Obama.

Trudeau profitierte gerade zu Beginn seiner ersten Amtszeit vom Ruf seines verstorbenen Vaters. Pierre Trudeau war 1968 zum Ministerpräsidenten gewählt worden. Vier Jahre später sah es auch für ihn zunächst knapp aus, doch am Ende stand er fast 16 Jahre an der Spitze der kanadischen Regierung. Und wie kaum ein anderer stand Pierre Trudeau bis heute für die liberale Ausrichtung des Landes, nicht zuletzt in der Einwanderungspolitik.

Als der Sohn 2015 die Macht übernahm, lenkte er Kanada in vielen Bereichen wieder zurück in die einst vom Vater eingeschlagene Richtung. Gerade in der Trump-Ära gilt Trudeau vielen Linken und Liberalen in der Welt als Verfechter von Multikulturalismus und Migration.

Legalisierung von Cannabis

Internationale Beachtung fand im vergangenen Jahr auch die landesweite Legalisierung von Cannabis. In der Umweltpolitik bemühte sich Trudeau um eine Balance mit wirtschaftlichen Interessen - was ihm von beiden Seiten mehr Kritik als Lob einbrachte. So führte er zwar die CO2-Steuer ein, trieb aber auch ein umstrittenes Pipeline-Projekt voran, um Erdöl aus der Provinz Alberta besser auf den internationalen Märkten verkaufen zu können.

Als große Leistung wird Trudeau gemeinhin angerechnet, ein neues Freihandelsabkommen mit Washington ausgehandelt zu haben, nachdem US-Präsident Donald Trump mit einer kompletten Aufkündigung gedroht hatte. Trump gratulierte Trudeau nun via Twitter zum Sieg.

Bei der jüngsten Parlamentswahl hing anders als 2015 allerdings nicht alles an Trudeaus Person, wie der Experte Robert Bothwell von der University von Toronto analysierte. „Trudeau ist Premierminister, weil der Rest der Partei in der Lage war, sich zusammenzureißen und sich durchzusetzen.“