Am 22. Juni 1941 begann Hitlers Vernichtungskrieg im Osten. Hier ziehen Panzer der Wehrmacht durch die Ukraine. Foto: Bundesarchiv

Der Abiturjahrgang der „Adolf-Hitler-Oberschule für Jungen“ in Böblingen hat 1940 ein Kriegstagebuch begonnen. Es dokumentiert, wie die Schüler immer mehr vom Hurra-Patriotismus abrücken vom Grauen des Krieges mitgenommen werden. Der ehemalige Lehrer Michael Kuckenburg hat das Tagebuch vor 30 Jahren herausgegeben.

Böblingen/Sindelfingen - Ein erschütterndes Zeitdokument, wohl einzigartig in Deutschland, das der Goldberg-Lehrer Michael Kuckenburg ausgegraben hat. Der Abiturjahrgang 1940 der „Adolf-Hitler-Oberschule für Jungen“, heute das Goldberg-Gymnasium in Sindelfingen, hat zwischen 1941 und Ende 1945 ein gemeinsames Tagebuch geführt, das sie „Rundbuch“ nannten.

Eine Kladde, in die alle Schüler des Abitursjahrgangs ihre Kriegserlebnisse eintragen wollten. Dieses Rundbuch gab die Geschichtswerkstatt des Goldberg-Gymnasiums unter Michael Kuckenburg im Jahr 1991 heraus. Jetzt, zum 80. Jahrestag des Überfalls Hitlers auf die Sowjetunion ist es Zeit, sich wieder daran zu erinnern.

Am 22. Juni 1941 überschritt die deutsche Wehrmacht ohne Kriegserklärung die Grenze zur Sowjetunion. Das Ziel war es, die deutsche Ostgrenze bis zum Ural zu verschieben, die gesamte jüdische Bevölkerung und etwa 30 Millionen Sowjetbürger zu ermorden und das Land zu kolonisieren. Der 20-jährige Wolfgang D. aus Böblingen erlebt den Überfall an vorderster Front und berichtet seinen früheren Goldberg-Mitschülern:

„Es ist Krieg. Es gibt kein zurück!“

„Abends irgendwo im Osten war es. Ich stand staunend mit Kameraden an einer Vormarschstraße. Die Kolonnen rissen nicht ab. In mir blitzte der Gedanke auf: Das ist Krieg! Es gibt kein zurück! Jetzt sah ich die vorüberfahrenden Kameraden mit anderen Augen an. Ich hob die Hand zum Gruße, sie winkten lachend zurück und brüllten Hurra.

Es klang mir wie ein Schlachtruf, wie ein Schwur. Die Heimat kann ruhig sein! Ohne Schlaf lag ich im Zelt und ich sah die vielen jungen Gesichter, die mir heute zugewinkt hatten. Bald wird mancher von ihnen verstummt sein.

Am nächsten Morgen überraschte mich die Nachricht, dass ich einem Verbindungstrupp zugeteilt bin, der einer Panzerdivision zugeteilt ist. Hurra! Das war ein Kommando. Die Kameraden beneideten mich. Hier würde ich den Krieg in vorderster Front erleben.

In den Wäldern wimmelte es nur so von unseren Truppen. Plötzlich ein Schild: Umleitung, Feindeinsicht! – Dort drüben saß der Russe auf Beobachtungstürmen und spähte zu uns herüber. Ein herrlich prickelndes Gefühl, so nah am Feind!“

Vermutlich haben auch die anderen Goldberg-Schüler den 22. Juni 1941 als große Zeit empfunden. Rund 3,7 Millionen deutsche Soldaten brachen auf, um die Sowjetunion zu erobern, die Anfangserfolge waren enorm. Die Goldbergschüler, die bereits ihr halbes Leben unter der NS-Propaganda verbracht haben, stoßen ins gleiche Horn.

„Und so ziehe ich hinaus, um ein Mann zu werden und reif wiederzukehren. Und wenn das Schicksal anderes mit mir vorhat, so werde ich nicht zittern. Denn wir sind nichts, Deutschland ist alles.“ Teddy, 11. 2. 1942

„Der Iwan kriegt ja solche Dresche! Und eines Tages wird auch er zusammenbrechen.“ Adju, 21. September 1942

Die Schlacht von Stalingrad im Winter 1942/1943 markiert den Wendepunkt des Krieges im Osten. Die Einträge im Rundbuch werden härter und realistischer. Natürlich durften die Schüler nichts gegen die Nazis und ihre Kriegsziele schreiben, denn das hätte sie den Kopf gekostet.

„Durch trostlose Steppe, Schlamm und Schnee“

„Ich sah Kameraden fallen. Es waren schwere Stunden. Dann wurden wir abgelöst. Schade. Wir wären gern vorne geblieben.“ Willi, 7. Mai 1942

„Weiter ging der Marsch durch trostlose Steppe, durch Schlamm und Schnee, fast von Läusen aufgefressen. So was Drum und Dran hängt, erzählt der Soldat nicht. Das muss er bei sich tragen als heiliges Vermächtnis.“ Albert, 4. Dezember 1942

„Als ich hinauszog, war ich durchdrungen von Idealen. Der Kampf erschien mir als etwas Großes, trotz aller Härte – Schönes. – Was ich erlebt habe, war meist Hässliches, ekelerregend manchmal. Man wird schließlich ein anderer Mensch.“ Teddy, 17. Juni 1943

Spätestens seit dem Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg war der Krieg nicht mehr zu gewinnen. Aber selbst im Jahre 1943, als die Wehrmacht bereits an allen Fronten auf dem Rückzug war, und die alliierten Streitkräfte die Lufthoheit und die Seehoheit erobert hatten, glaubten noch viele an den Endsieg. Doch das Grauen des Krieges kam immer näher. Und das permanente Sterben an der Front ließen keinen Platz mehr für den Hurra-Patriotismus der ersten Monate.

„Acht Angehörige unserer Klasse sitzen um mich her und niemand ist fähig, einen Eintrag in dieses Buch zu machen. Mir als Schreibungewandtestem wird die Feder in die widerwillige Hand gedrückt.“ Heinz, 12. April 1944

Im Winter 1945 stießen die Alliierten im Westen zum Rhein vor und im Osten zur Oder. Die deutschen Städte waren in Trümmern gelegt, die ersten Konzentrationslager wurden befreit und zeigten das Ausmaß der nationalsozialistischen Verbrechen. Die Soldaten der Wehrmacht versuchten irgendwie, am Leben zu bleiben und dachten schon an die Zeit nach dem Krieg.

„Eine Schwester der chirurgischen Abteilung hatte es mir angetan und nach wenigen Wochen war ‚Sie‘ der Ausnahmefall: ‚Heiratsurlaub‘! In Nagold soll der Feind eingerückt sein. Man muss es verstehen, überall die Sonnenseiten ausfindig zu machen.“ Walter, 15. April 1945

Der Krieg ging am 8. Mai zu Ende. Von den 20 Abiturienten waren sechs im Krieg geblieben oder starben an den Kriegsfolgen. Der Wiederaufbau und die Eingliederung der Bundesrepublik in die Nato schloss auch ein Schweigen über den Krieg mit ein. Damit geriet auch das Rundbuch in Vergessenheit, bis in die 60er Jahre.

Michael Kuckenburg ist das, was man wohl einen „Alt-68er“ nennt. Er wurde politisiert in einer Zeit, als die Jugend gegen eine Gesellschaft revoltierte, die an ihrem eigenen Mief zu ersticken drohte. Der Vietnam-Krieg ließ die Schutzmacht USA auf einmal so gar nicht mehr als Hort der Freiheit und Demokratie erscheinen, mit der Pille kam die sexuelle Revolution und statt Stoffhose und Karohemd trug man Jeans – und Karohemd. Die Frage „Beatles oder Stones“ beschrieb eine grundsätzliche Lebenshaltung, und zum ersten Mal in der Bundesrepublik wurde der Massenprotest außerhalb der Arbeiterklasse gesellschaftsfähig, zu viel lag den jungen Leuten auf dem Herzen. „Wir fuhren nach Stuttgart zu Demonstrationen, um irgendwie wegen allem zu protestieren“, berichtet Michael Kuckenburg.

Die dunklen deutschen Jahre waren unaufgearbeitet

Was diese Generation empörte, war das Schweigen der Väter über den NS-Staat. Die dunklen deutschen Jahre waren unaufgearbeitet und die 68er machten sich daran, das zu tun.

Michael Kuckenburg war 38 Jahre lang Lehrer für Geschichte, Deutsch und Politik am Goldberg-Gymnasium in Sindelfingen und hat dort Generationen von Schülern geprägt. Mit seiner Reihe „Gespräche am Goldberg“, die er zusammen mit seiner Frau Stephanie Schneider ins Leben rief, brachte er vom Außenminister Hans-Dietrich Genscher bis zur Schauspielerin Iris Berben mehr als hundert Personen der Zeitgeschichte in die Stadt. Er gestaltete darüber hinaus in Tübingen zusammen mit dem Kulturwissenschaftler Bernd Jürgen Warneken und dem Historiker Wilfried Setzler die Ausstellung „Tübinger Revolten.“ Er ist Träger des Bundesverdienstkreuzes und er gründete die Sindelfinger Geschichtswerkstatt, die sieben Bücher verfasste, eines der wichtigsten ist eben diese Dokumentation.

Das Original des Rundbuches hält Michael Kuckenburg für verschollen, falls es doch noch in Böblingen oder Sindelfingen in Privatbesitz ist, dann sollte es schnell ins Stadtarchiv.

Sechs der 20 Goldberg-Schüler sind im Zweiten Weltkrieg oder an den Kriegsfolgen gestorben. Das berühmteste Opfer war wohl Hans Steisslinger, der Sohn des bekannten Böblinger Malers Fritz Steisslinger. Vielleicht wollte er, dass die Wahrheit über die Verbrechen auch der Wehrmacht sein Leben überdauern sollte, das im Jahr 1947 an den Kriegsfolgen enden sollte. „Er stand am Grab erschossener Juden“, schrieb Steisslinger in der er-Form über sich und so trug das Rundbuch auch zur Diskussion über die Verbrechen der Wehrmacht bei, die mit den Wehrmachtsstellungen seit dem Jahr 1995 publik wurden.

Buch Geschichtswerkstatt am Goldberg-Gymnasium Sindelfingen: „Restloser, verzehrender Einsatz für Deutschland“: Eine Schulklasse erlebt den Zweiten Weltkrieg. Das Rundbuch des Abiturjahrgangs 1940 der ‚Adolf-Hitler-Oberschule’ Böblingen. Silberburg-Verlag Stuttgart 1991.