Unter der Achalm hindurch lotst der neue Reutlinger Tunnel den Verkehr und entlastet die Innenstadt. Foto: Horst Haas

In Reutlingen wird am Freitag der 135 Millionen Euro teure Scheibengipfeltunnel eröffnet. Die entlastende Ortsumfahrung kommt zur rechten Zeit: die Stickstoffdioxidwerte in der Innenstadt sind gefährlich hoch.

Reutlingen - Etwas aufatmen können die Reutlinger, wenn an diesem Freitagnachmittag nach acht Jahren Bauzeit mit einem Festakt der Scheibengipfeltunnel für den Verkehr eröffnet wird. Die neue Ortsumfahrung der Bundesstraße 312 führt unter der Achalm, dem Reutlinger Hausberg, hindurch und soll die staugeplagte Innenstadt um täglich 20 000 Fahrzeuge entlasten. „Die Fertigstellung des Tunnels ist ein Glücksfall für die Luftreinhaltung vor Ort“, heißt es aus dem Stuttgarter Verkehrsministerium. Tatsächlich kommt der Abschluss des 135-Millionen-Euro-Projekts zur rechten Zeit. Es herrscht dicke Luft in Reutlingen – und wenn sich nicht bald etwas tut, müssen womöglich ältere Dieselfahrzeuge draußen bleiben.

Gleich hinter Stuttgart, das Jahr für Jahr am Neckartor traurige Spitzenwerte beim Stickstoffdioxid in Baden-Württemberg misst, rangiert die Großstadt Reutlingen auf Platz zwei im Negativ-Ranking. Statt der erlaubten 40 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft lag im Jahr 2016 die Belastung in der zentral gelegenen Lederstraße bei 66 Mikrogramm. Ein Wert, der sinken muss, wie die Deutsche Umwelthilfe fordert. Sie hat vor dem Verwaltungsgericht Sigmaringen einen neuen Luftreinhalteplan für Reutlingen erzwungen. Dieser Tage berät das Kabinett über dessen vierte Fortschreibung. „Ohne den Tunnel wäre es ausgeschlossen, diesen umzusetzen“, betont Reutlingens Oberbürgermeisterin Barbara Bosch und hofft, ein Verbot für Dieselfahrzeuge vermeiden zu können. Sie setzt auf Tempodrosselungen, einen Masterplan Radverkehr, ein neues Stadtbuskonzept mit umweltfreundlichen Fahrzeugen und will Lastwagen nicht mehr durch die City rollen lassen. „Es gibt allerdings kein Patentrezept“, sagt Bosch, die auch Tunnelpatin ist, und hofft, dass in einigen Jahren die Regionalstadtbahn die Straßen entlasten wird.

Vor allem der Schwerlastverkehr soll draußen bleiben

Der Tunnel, der lange umstritten war und den die Bürgerinitiative Pro Achalm verhindern wollte, soll den Lärm und die Abgase reduzieren. Von den 65 000 Fahrzeugen, die sich durch die Stadt schieben, wird ein Drittel durch die Röhre rollen, so die Hoffnung der Planer. Vor allem der Schwerlastverkehr soll draußen bleiben. „Jetzt kann Reutlingen endlich umfahren werden“, sagt Projektleiter Norbert Heinzelmann vom Tübinger Regierungspräsidium. Der Ingenieur, der die Baustelle von Beginn an betreut hat, zeigt sich realistisch. „Man darf nicht zu viel erwarten“, sagt er. Es sei nicht wie in Schwäbisch Gmünd, wo der Einhorn-Tunnel einen Großteil des Verkehrs aus der Stadt fernhalte und neue städtebauliche Chancen eröffnet habe. „Der Tunnel allein wird Reutlingens Probleme nicht lösen“, sagt Heinzelmann. Dazu gebe es zu viel Quell- und Zielverkehr, der die Kernstadt ansteuert.

Für Heinzelmann ist die Freigabe des knapp zwei Kilometer langen Tunnels ein Tag zum Feiern. Nicht nur der Zeitpunkt der Freigabe sei eine Punktlandung, freut sich der Projektleiter, auch den Kostenrahmen habe man weitestgehend eingehalten. Teurer geworden sei das Projekt durch aus der Tiefe hochsteigendes Methangas. Unterschätzt wurde auch der Widerstand der Achalm. „Das Gebirge war fester als erwartet“, sagt Heinzelmann, „wir mussten mehr sprengen, als wir gedacht hatten.“ Die größte Sorge, dass es zu erheblichen Rissen an Privatgebäuden im Baubereich kommt, habe sich nicht bewahrheitet. Es habe glücklicherweise nur Schäden im Millimeterbereich gegeben, sagt Heinzelmann. Die Betroffenen seien mit 360 000 Euro entschädigt worden. Drei Hausbesitzer hätten sich entschieden, vor Gericht zu klagen.

Nicht ganz so froh gestimmt ist Peter Nussbaum, der Bürgermeister der kleinen Gemeinde Lichtenstein. Wer auf die Schwäbische Alb hinaufwill, wird nach dem Scheibengipfeltunnel einspurig auf der B 312 durch Lichtenstein geführt. „Wir sind das ausbremsende Nadelöhr“, sagt Nussbaum und befürchtet, dass die 9000-Einwohner-Kommune vom Verkehr überrollt wird. Schon jetzt ist streckenweise nur Tempo 30 erlaubt, langsamer geht es nicht.

Der Albaufstieg bei Lichtenstein müsse kommen, fordert Bürgermeister Nussbaum

Für Nussbaum ist deshalb ein Albaufstieg bei Lichtenstein und die Ortsumfahrung Engstingen auf der Albhochfläche zwingend. Es sei ein Quantensprung gewesen, dass beide Vorhaben im vordringlichen Bedarf des Bundesverkehrswegeplans 2030 aufgenommen wurden, also in der höchsten Kategorie, sagt der Bürgermeister. „Die Planung muss alsbald beginnen.“

Heftig gestritten wird seit Langem um die Verkehrsanbindung an der anderen Seite des Tunnels, dem Nordportal. Die sogenannte Dietwegtrasse, ein Relikt aus den 70er Jahren, soll den Verkehr weiter in Richtung Tübingen oder über die B 27 nach Stuttgart leiten. Ihre Befürworter haben sich gefreut, dass die zweieinhalb Kilometer lange Trasse 2016 ebenfalls als vordringlich im Bundesverkehrswegeplan eingestuft wurde. Sie sagen, dass sie bestehende Tangenten wie die B 28/B 312 entlaste. Ihre Gegner können dem Bau, der teils als offener Tunnel an Wohngebieten entlang geplant worden ist, gar nichts abgewinnen. Sie argumentieren, sie sei überflüssig und der Verkehr könne auf den bestehenden Straßen abgeleitet werden.

Die künftigen Ströme des Verkehrs wollen die Planer über Beschilderungen und geänderte Straßenführungen so gut wie möglich steuern. Schleichwege sollen verhindert, Lastwagen sollen auf die Umfahrung gelotst werden. „Der Individualverkehr hat seine Grenzen erreicht, das sieht man an unserer Stadt“, sagt Oberbürgermeisterin Bosch. Und die Prognose aus dem Regierungspräsidium für Reutlingen klingt auch nicht gut: „Trotz des Tunnels wird die Stickstoffdioxidbelastung 2020 in manchen Straßenabschnitten die Grenzwerte überschreiten“, sagt Ute Maier, die Leiterin des Referats Luftreinhaltung am Regierungspräsidium.

Skeptisch gegenüber Tunnellösungen ist auch die Deutsche Umwelthilfe (DUH). „Wenn neue Strecken geschaffen werden, zieht das weiteren Verkehr an“, sagte Dorothee Saar, Leiterin Verkehr und Luftreinhaltung bei der DUH. Was dringend kommen müsste, sei endlich das Inkrafttreten des Luftreinhalteplans.